Auch wenn wir es uns nicht eingestehen wollen: Urteile über Menschen hängen immer viel von deren Aussehen ab. Dies gilt im Medium Film natürlich besonders. Was also, wenn da der sympathische, blendend aussehende, verantwortungsvolle junge Vater ist - steht er moralisch in jedem Fall höher als ein schäbig tätowierter Junkie, der Frau und Kind bedroht?
In ihren neuen Thriller "Zweite Chance" jongliert die dänische Oscarpreisträgerin Susanne Bier ("In einer besseren Welt") geschickt mit den Erwartungen und Sehgewohnheiten der Zuschauer und erzählt die packende Geschichte einer existenziellen Krise. Das Drehbuch von Anders Thomas Jensen ("Adams Äpfel") ist raffiniert, wartet mit vielen Überraschungen auf und kommt nur ganz zum Ende hin etwas überkonstruiert daher.
Wenn das Wunschkind stirbt
Der Polizist Andreas (Nikolaj Coster-Waldau, "Game of Thrones") und seine Frau Anna (Maria Bonnevie) sind Bilderbuch-Eltern mit einem Haus am See. Sie umsorgen ihr langersehntes Wunschkind mit Hingabe. Bei einer Razzia mit seinem Kollegen Simon (Ulrich Thomsen) stößt Andreas dann in der vollgemüllten Wohnung des Junkie-Pärchens Tristan (Nikolaj Lie Kaas) und Sanne (May Andersen) auf ein verwahrlostes Baby.

Als kurz danach sein eigenes Kind stirbt, holt Thomas in einer Art verzweifelter Spontanaktion das verdreckte Junkie-Baby aus der Wohnung von Tristan und Sanna und überlässt den Drogensüchtigen sein eigenes, sein totes Kind. Doch Andreas und Anna werden, wie nicht anders zu erwarten war, nicht glücklich mit dem gestohlenen Baby. Der Polizeikollege Simon stößt auch bald auf Ungereimtheiten, und die Junkie-Mutter Sanna schwört, dass ihr eigenes Kind noch lebt.
Alptraum mit dramatischem Ende
Wer hat überhaupt ein Recht auf ein Kind? Der gewissenhafte Andreas mehr als der jähzornige Junkie Tristan? Ist Glück an den sozialen Status gekoppelt? Susanne Bier bringt den Zuschauer immer wieder zum Nachdenken. Dabei will sie nicht belehren. Die Dänin vergleicht ihre Arbeitsweise laut Presseheft sogar eher mit der Welt des Unbewussten. "Das ist wie ein intuitiver Trip, auf den ich mich begebe. Ein bisschen so wie bei Kindern, die beim Spielen völlig in ihrer eigenen Welt sind. Filme sind auf ihre Art wie Träume", so die Regisseurin.
Für ihren Protagonisten Andreas ist die Geschichte schon weit vor ihrem dramatischen Ende zu einem Alptraum geworden. Dass er nie eine "Zweite Chance" hatte, begreift dieser traurige Held allerdings erst ganz zum Schluss.