Neues Album "Let Them Eat Chaos" Warum Kate Tempest mehr Menschlichkeit fordert

  • von Vivian Alterauge
Die 30-jährige Rapperin und Schriftstellerin Kate Tempest glaubt, dass "Wir gegen die" nicht mehr länger funktioniert. Was sie stattdessen fordert: bedingungslose Empathie.

Es dauert Sekunden, bloß ein paar Takte, und Kate Tempest hat einen in ihren Spoken-Word-Kosmos eingesaugt. Man schwebt mit ihr im All, Tempests raue Stimme gibt die Regieanweisungen. Man schaut herab auf die Welt. Ganz plötzlich wächst da das dringende Bedürfnis, diese Welt zu begreifen. Zu wissen, ob sie noch optimistisch ist oder in Sorge. Immer weiter zoomt Tempest ein Richtung Erde, bis man sich in den Straßen Südlondons wiederfindet, um 4:18 Uhr. Nicht mehr ganz Nacht, noch nicht Tag. „Es ist eine Zeit, die niemand anderem gehört als dir“, sagt Tempest. Manchmal steht sie genau dann auf, zwischen Nacht und Tag, um zu schreiben. Sie hat dann wenige Stunden geschlafen, stand womöglich auf einer Bühne am Vorabend. Und wenn die Dämmerung vorbeigezogen ist, der Tag beginnt, dann lässt auch sie ihren Tag beginnen. 

 An diesem Tag sitzt Tempest in einem kleinen, lichtdurchfluteten Raum ihrer Plattenfirma in Berlin und jongliert einen Apfel in den Händen. Wenn sie einen anschaut, ist das kein normales Anschauen, es ist eher ein Durchdringen. Und das ist jetzt nicht nur so daher gesagt, denn wer je etwas von Tempest gehört oder gelesen hat, weiß, dass Durchdringen ihre große Gabe ist. Die erdbeerblonden Locken rahmen ihr ungeschminktes Gesicht und fallen auf die Schultern.

 Vor wenigen Monaten erschien ihr Debütroman "Was noch zu erwarten ist", 2013 gewann sie mit einer Spoken-Word-Performance einen der wichtigsten englischen Literaturpreise. Kein Werk, das nicht elektrisierte, weil es so radikal politisch und menschlich zugleich ist. Kritiker klangen wie berauscht, als sei das wirklich noch möglich, mit Worten zu berauschen. Teils wahnwitzige Metaphern prasseln in Tempests Werken auf ihre Leser ein. Und schmerzhaft ehrliche Geschichten junger Menschen, die hauptsächlich damit beschäftigt sind, um sich zu kreisen, um ihre Probleme.

Schonungslos und doch menschenfreundlich

 Auch auf "Let Them Eat Chaos" spielen diese jungen Menschen eine Rolle. Um 4:18 Uhr schaut Tempest in die Häuser, die Wohnungen, die Köpfe von sieben Londonern, die wachliegen. Da ist die Frau, die im Krieg ihren Geliebten verlor. Eine andere wünscht sich aus ihrem bürgerlichen Leben heraus in die Zeit zurück, in der ihr Tag mit Drogen begann und mit Drogen endete. Oder dieser PR-Manager, der sein Appartement mit den bodentiefen Fenstern abzahlt und hier und da eine Liebelei anfängt. Ein Mann mit dem vermeintlich guten Leben. Schlafen kann er trotzdem nicht. Das Album, spärlich und doch kraftvoll unterlegt mit mechanischen Elektroklängen, gleicht einer Sozialstudie, die unsere heutige Gesellschaft in ihrer Tumbheit seziert.

Doch egal wie schonungslos das klingen mag - Kate Tempest strahlt immer eine gewisse Wärme für ihre Protagonisten aus. Man fragt sich, wie ihr das gelingt, dieser Drahtseilakt zwischen präziser Beobachtung und Empathie. Wenn man dann vor ihr sitzt und mit ihr diskutiert, bekommt man eine Ahnung davon.

Sie sagt: "Wir sind uns alle bewusst über die Grausamkeiten, die in der Welt passieren. Wir kennen die Ungleichheiten und stören uns an ihnen. Aber so lange wir passiv weitermachen können mit unserem Leben und uns darin verlieren, was auch immer wir mit unserem privilegierten Leben anfangen wollen, tragen wir ein Stück weit zur Unterdrückung anderer bei."

Aber ist das nicht irgendwie menschlich, fragt man sie.

"Diese ständige Ausflucht isoliert und lässt uns verloren in unseren eigenen Gedanken zurück. Liebe ich richtig? Sehe ich ihn wieder? Diese Fragen sind ja okay, sie sind menschlich. Aber wir sind Teil etwas Größeren und wir haben diese unglaubliche Chance, mit Menschen in Kontakt zu treten, die wir noch nie zuvor getroffen haben. Und uns ihre Geschichten anzuhören, mit Menschlichkeit."

Ein Sturm wird kommen

Man kann man Tempest eigentlich über jedes Thema sprechen, sie weiß über Politik so viel wie über Hip Hop oder Mythologie. Der Opa erzählte ihr vom alten Rom, der Vater über die Griechen. "Es gibt keinen Unterschied, ob man nun ein tolles Stück liest oder eine CD hört" - auch die ältesten Geschichten hätten heute ihre Gültigkeit.

Aber egal, in welche Richtung man diskutiert, beinahe jede Aussage unterliegt folgender Prämisse, die sch Tempest selbst auferlegte. Sie lautet: Ich liebe Menschen. Die ganz unten genauso wie die ganz oben. "Auch wenn das fast lächerlich klingt: Wir gegen das Establishment - das geht nicht mehr länger gut." Vielmehr sollten die da oben genauso an eine Einheit glauben wie alle anderen, sie sollten Menschlichkeit und auch Verletzlichkeit in ihren Alltag zurück aufnehmen. Und wem das jetzt zu banal klingt, dem wird Tempest gerne erklären, in welchen Werken und Mythen dieser einfache und für heutige Verhältnisse beinahe esoterische Leitspruch schon Erwähnung fand. Tempest ist nicht wie einer dieser Menschen, die das Schlechte nicht sehen wollen und eine Kerze anzünden, um ihr eigenes Licht zu finden, das liest man ihren Werken an, ihren Beobachtungen, ihren Recherchen.

Sie erzählt einfach, egal ob als Rap, als Gedicht, als Roman. Weil sie an die Kraft von Geschichten glaubt. "Veränderung beginnt mit der Erzählung, weil Geschichten uns sagen, wer wir sind."

Am Ende ihres grandiosen Albums "Let Them Eat Chaos" bringt Tempest dann die Geschichte und ihre Menschen zusammen. Es braut sich ein Sturm fast biblischen Ausmaßes zusammen, in denen sie all die sieben schlaflosen Gestalten hineinlaufen lässt. Er soll durchpusten, was durchzupusten ist, aufrütteln, befreien. Was die literarische englische Bezeichnung für Sturm ist? Tempest.

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