Der Weg von der Verkündung von "Midnights" bis zur Veröffentlichung heute Morgen um 6 Uhr unserer Zeit war eine Achterbahnfahrt. Teaser, Anspielungen, Ratespiele, keine Single. Das Album ist ein Pop-Album, die Songs seien persönlicher als je zuvor und eine Mischung aus Glitzerstift-, Feder und Tinte- und schwarzer-Marker-Songs. Ohne den Hauch einer Ahnung also, was ich zu erwarten hatte, habe ich mir einen Wecker gestellt, um den Album-Drop in Echtzeit mitzuerleben. Um 6:02 Uhr, nachdem Spotify kurzzeitig zusammenbrach, habe ich die Kopfhörer aufgesetzt, die Augen geschlossen und gelauscht. Das Warten hat sich gelohnt. Nach dem 7. Durchlauf, mit Kopfhörern, ohne Kopfhörer und auf Vinyl sind hier nun meine von einer rosaroten Brille verzerrten Eindrücke.

1 "Lavender Haze"
Eine Mischung aus "False God", "Call It What You Want" und "I Think He Knows". Der dumpfe Bass führt wie ein Herzschlag durch den Song, der vom Verliebtsein erzählt. "Lavender Haze" war nämlich ein in den 50ern beliebter Ausdruck genau dafür. Definitiv ein guter Start ins Album: upbeat, cool, groovy.
Beste Zeile: "I’m damned if I do give a damn what people say"
2 "Maroon"
Verträumt, düster und episch. Wäre der Song ein Stoff, dann wäre er Samt. Klingt wie eine sanftere Fortsetzung von "King Of My Heart". Beim ersten Hören mein Favorit, auch nach dem Sechsten immer noch unter den Top drei.
Beste Zeile: " And how the blood rushed into my cheeks, so scarlet it was maroon"
3 "Anti-Hero"
Aus diesem Song wird der nächste virale Tiktok Sound kommen ("It’s me. Hi. I’m the problem it‘s me"). Erzählerisch erinnert "Anti-Hero" an "No Body No Crime" und "The Last Great American Dynasty". Der Refrain sollte im Auto auf der Landstraße bei offenem Fenster voll aufgedreht werden. Über die Zeile "Sometimes I feel like everybody is a sexy baby" bin ich beim ersten Hören gestolpert, sie soll aber eine Referenz zu "30 Rock" sein. Dann geht das zähneknirschend durch.
Beste Zeile: "She’s laughing up at us from hell"
4 "Snow On The Beach (feat. Lana Del Rey)"
Gänsehaut und Grinsen. Das Intro klingt auf dezente Weise wunderbar weihnachtlich. Hätte vom Vibe her auch auf "Folklore" erscheinen können, als Schwestersong zu "Illicit Affairs". Den Song sollte man am Besten im Liegen hören, alles andere fühlt sich falsch an. Genauer gesagt: liegend im Winter in den Dünen. Der Wohnzimmerboden und gute Vorstellungskraft tun es aber zur Not auch. Einziges Manko: Lana Del Rey unterstützt lediglich im Refrain und dort auch nur im Hintergrund. Taylor und Lanas Stimmen harmonieren so angenehm, dass man sich mehr Kollaboration als Hintergrundgehauche von Del Rey gewünscht hätte. Trotzdem einer der schönsten Songs des Albums.
Beste Zeile: "We’re falling like snow on the beach. Weird but fuckin’ beautiful."
5 "You’re On Your Own, Kid"
Einseitige Liebe und Coming-of-Age. Die E-Gitarre und der Schlagzeug-Beat fordern einen auf, eine Jacke überzuwerfen, sich aufs Rad zu schwingen und mit wehenden Haaren durch eine Feldlandschaft zu rasen. "You’re On Your Own, Kid" hat denselben Pop-mit-einer-Prise-Country-Taylor-Vibe wie das "Red"-Album.
Beste Zeile: "I picked the petals, he loves me not. Something different bloomed, writing in my room."
6 "Midnight Rain"
Beim ersten Hören, habe ich die Autotune-Stimme gehasst. Ich habe mich dann selbst eines Besseren belehrt. Einfach nochmal und nochmal hören, dann gewöhnt man sich daran und plötzlich liebt man es. Wenn "Reputation" und "1989" in den Mixer geschmissen würden, "Midnight Rain" wäre das Ergebnis. Wer die Augen schließt, hört den Regen auf das Dachfenster prasseln.
Beste Zeile: "He wanted a bride, I was making my own name."
7 "Question…?"
Ohne Frage der nüchterne Rückblick auf "Out Of The Woods". Der "1989"-Song wird am Anfang sogar kurz gesampelt. Mitreißender Beat, ansonsten für mich einer der schwächeren Songs.
Beste Zeile: "Does it feel like everything’s just like second best after that meteor strike?"
8 "Vigilante Shit"
Wenn Billie Eilish einen Song für "Reputation" produziert hätte, wäre es "Vigilante Shit". "You Should See Me In A Crown" Vibes. Dieses Lied kommt auf meine "Walking like a Badass"-Playlist. Die Wut aus den "Reputation"-Songs ist hier abgekühlt, mit Whiskey auf Eis serviert und wird süffisant in slow-motion im Glas geschwenkt. Ein Meisterwerk.
Beste Zeile: "I don’t dress for women. I don’t dress for men. Lately I’ve been dressing for revenge."
9 "Bejeweled"
Gibt 80er Vibes, vermutlich wegen des Synthesizers. Kein schlechter Song, geht aber im Album unter.
Bestes Zeile Wort: "Shimmer" (muss man hören)
10 "Labyrinth"
Das Intro aus dumpfen "Ah ahs" stört etwas. Wenn man eh schon für "Snow On The Beach" auf dem Boden liegt: Dieser Song sollte ebenfalls in der Horizontalen genossen werden. Er ist der tiefe Atemzug mit geschlossenen Augen, bevor man den Absprung ins Ungewisse macht.
Beste Zeile: "You know how scared I am of elevators. Never trust it if it rises fast"
11 "Karma"
"Karma" ist also kein geheimes Album, sondern ein Song. Karma ist real. Karma ist keine bitch. "Karma" ist ein Mittelfinger mit pinkem Glitzernagellack. Mein Lieblingssong auf dem Album, einfach weil alle eine weitere bittere Abrechnung à la "Look What You Made Me Do" erwartet haben und stattdessen ein Fuck You mit Herz als o serviert bekamen. Wer eine Katze hat, solle sie sich auf den Schoß setzen und im Bond-Bösewicht-Style lauschen.
Beste Zeile: "Karma is a cat purring in my lap ‘cause it loves me"
12 "Sweet Nothing"
Eigentlich ein Duett, denn Co-Writer ist William Bowery, also Taylors Freund, vermutlich Verlobter, Joe Alwyn. Eine Liebeserklärung an einander, die jegliche Gerüchte, sie würden bloß eine PR-Beziehung führen wie Seifenblasen zerplatzen lässt. Sanft, süß und verträumt. Klingt traurig, ist aber einer der hoffnungsvollsten Songs des Albums.
Beste Zeile: "All you ever wanted from me was sweet nothing"
13 "Mastermind"
Bleibt als Fortbewegungsmittel noch das Laufen. Kopfhörer auf und losrennen, die Endorphine werden nur so strömen. Ein genialer Abschluss des Albums. Die Violine im Refrain und der Synthesizer in den Strophen bilden Gegensätze und ergänzen sich dabei perfekt, um das Lied zeitlos zu machen. She is in fact a Mastermind. Es würde mich nicht wundern, wenn dieser Song es noch in mein Spotify Wrapped schafft.
Beste Zeile: "I laid the groundwork and then just like clockwork, the dominoes cascaded in a line"
Fazit zu Taylor Swifts "Midnights"
Es ist ein guter Tag, um Taylor Swift Fan zu sein. "1989" und "Reputation" haben sich liebevoll vereint und "Midnights" herausgebracht und Taylor Swift beweist erneut, dass sie eine der besten Songwriterinnen unserer Generation ist. "Midnights" ist erwachsener und gesetzter als vorige Alben und doch fühlt es sich frisch und neckisch an.
Ich spare jetzt schonmal auf die Konzertkarten für die noch nicht angekündigte Tour.

Und weil Taylor Swift Taylor Swift ist, gab es drei Stunden nachdem "Midnights" erschienen ist, sieben weitere Songs auf der "Midnights (3am Edition)". Ich muss mich allerdings erstmal von der emotionalen Achterbahnfahrt seit heute Morgen um 6 erholen, bevor auch diese in Worte gefasst werden können. Aber Spoiler: "Glitch" führt die Nachrücker an.