"Zunge" Neues Album von Till Lindemann: Um Provokation bettelnder Bierplauzen-Rock

Till Lindemann
Till Lindemann bei einem Konzert (Archivbild)
© Foto24 / Gallo Images / Getty Images
Till Lindemann bringt mit "Zunge" ein neues Solo-Album heraus. Und man könnte schon fast Mitleid bekommen, mit einem alternden Rockstar, der offenbar nicht bemerkt hat, das seine Art der Provokation nicht mehr wirkt.

Das laufende Jahr war für Till Lindemann und Rammstein vor allem durch die Missbrauchsvorwürfe geprägt. Nun macht der Frontmann mit seinem neuen Album auch musikalisch wieder von sich reden.

Grundsätzlich soll man keine Witze über das Altern machen. In diesem Sinne entschuldige ich mich zu Beginn. Denn auf Till Lindemanns neues Soloalbum "Zunge" kann man eigentlich nur auf zwei Arten reagieren: Mit Humor oder Mitleid. Mit Blick auf das Image, das Lindemann auch als Frontmann von Rammstein immer pflegte, stellt sich die Frage, was schlimmer wäre. "Zunge" ist nicht weniger als die Dokumentation des eigenen körperlichen Verfalls, gepaart mit durchschaubaren Provokationen, die weiß Gott niemanden schocken dürften.

Till Lindemanns Album "Zunge": Abgehalfterter Horrorclown spielt belangloses Tabuwort-Bingo

Dabei hat Lindemann wohl erkannt, dass er selbst, oder viel mehr sein eigener Körper, durchaus Potential hat, um Aufsehen zu erregen – eben weil er mittlerweile schon 60 Jahre alt ist. Nur reicht ein Fast-Rentner-Körper im Allgemeinen natürlich nicht, um zu provozieren. Und deshalb spielt Lindemann offenbar wahllos ein ebenso groteskes wie belangloses Tabuwort-Bingo.

Eine Abrechnung mit dem Verfall des eigenen Körpers in "Altes Fleisch", explizit gesungene Sex-Szenen in "Tanzlehrerin", die nur durch die Wortwahl polarisieren ("Ich hab den Schwanz wieder drin, in meiner Tanzlehrerin"), eine Horrorclown-Ästhetik in "Alles für die Kinder" (Hab keine Angst vor mir, ein Kind ist doch auch nur ein Tier") oder ein stumpfer Ekelfaktor in "Schweiss" – die Songs wirken wie ein verzweifelter Schrei nach Beachtung: "Bitte ekelt euch!" 

Wehleidig und konstruiert wirken die Provokationen. Beim Song "Sport Frei", der sicherlich zu den besten des Albums gehört, musste sogar ein Video in Leni-Riefenstahl-Optik herhalten, in dem Lindemann selbst als Fackelläufer durch das Berliner Olympiastadion läuft und sich schließlich selbst anzündet, um zumindest so etwas wie einen "Oh-Moment" zu schaffen. 

Texte, die nicht schocken – Musik, die eindimensional bleibt

Unweigerlich wird man an einen alternden Mann erinnert, der noch immer versucht, mit der Jugend mitzuhalten, ohne zu merken, dass seine Zeit vorbei ist. "Guck mal, wie krass ich bin" – Augen rollen, rübersehen zu den coolen Leuten. Texte über vermeintliche Tabuthemen wie Körperflüssigkeiten oder Sex reichen nicht mehr, um Fans und Feuilleton zu schocken. 

Nur scheint Lindemann das nicht wahrhaben zu wollen. Denn das wehleidige Betteln um Aufmerksamkeit ist das Einzige, das von diesem Album hängenbleibt. Auch musikalisch wirkt "Zunge" im Vergleich zu den vorangegangen Alben von Lindemann eindimensionaler. Das liegt wohl in erster Linie am Abgang seines bisherigen Co-Musikers Peter Tägtgren. Alleine sind die Songs fast durch die Bank identisch: Kurzes Intro, Strophe mit Synthesizer und Schlagzeug unter Lindemanns Stimme, Refrain laut und brachial, Strophe wieder ruhig. 

Für einige Mittvierziger-Jürgens in Bandshirts wird es reichen

Dabei keift der Rammstein-Frontmann teilweise so grotesk ins Mikro, dass er klingt wie eine Parodie auf sich selbst. Was dabei herauskommt ist belangloser Bierplauzen-Rock bei dem einige Mittvierziger-Jürgens in Bandshirts vermutlich trotzdem die Wangen aufpusten und die Augen aufreißen, weil Lindemann tatsächlich "Schwanz" gesungen hat.

Einzig der Track am Ende des Albums, der nach der Ballade "Selbst verliebt" versteckt ist, sorgt für ein Schmunzeln und einen versöhnlichen Abschluss der Platte. 

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