Günter Wallraff war mein Vorbild. Ein echtes. Während andere Poster von David Hasselhoff an die Wand klebten, saß ich im Schneidersitz auf dem Boden meines Jugendzimmers und las seine Abenteuer in den Rohren der BASF-Zentrale, verfolgte neugierig, wie er die "Bild"-Zeitung von innen heraus demontierte. Wallraff war Popkultur im Journalismus - lange bevor es solche Kategorisierungen gab. Und heute?
Verkauft Wallraff uns angeblich Neues, das aber lange bekannt ist. Lange bevor es auf RTL läuft. Lange bevor Menschen mit Bierschaum im Bart vor ihren Fernsehern sitzen und den Kopf schütteln. 15,3 Prozent der 14- bis 49-Jährigen interessieren sich dafür, was in deutschen Großküchen passiert. Und das "Team Wallraff" stellt fest: Es läuft scheiße unter den Deckeln der Kantinenkochtöpfe. Da wird Schimmliges zu Schulspeisen, Minderwertiges zu Altenheimkost. Und ich sitze fassungslos vor dem Fernseher. Nicht, weil wir damit die Gesundheit der Alten und Jungen gefährden, sondern weil Wallraff es als Sensation verkauft. Er überzieht es, er dramatisiert und bedient sich genau an den von ihm verachteten Stilmitteln des Boulevards.
Urdeutsches Bedürfnis: Meckern
Geschenkt. Ich schiebe diese Verweichlichung seiner Arbeit auf das Alter. Die Unlust wirklich etwas aufzudecken. Dass bei Burger King der Schmutz regiert, dass in Altenheimen Rentner in ihren Betten verrecken. Das sind Katastrophen, mit Sicherheit - und es sind perfekt inszenierte Filme. Es sind konstruierte Skandale. Und sie bedienen ein urdeutsches Bedürfnis: Meckern.
Der Deutsche meckert, zetert für sein Leben gerne, doch ändern will er nichts. Dafür ist er zu bequem, dafür ist es doch toll, dass die Schulspeisung eben nur 52 Euro im Monat kostet (2,60 Euro pro Tag für eine warme Mahlzeit). 2,60 Euro am Tag rechtfertigt kein Schimmel im Essen, das ist klar, aber warum hinterfragt Wallraff nicht den Geiz seiner Zuschauer, warum kritisiert er nicht, dass ein erbarmungsloser Wirtschaftskreislauf dafür verantwortlich ist, dass Kinder und Alte Kompost zum Essen bekommen?
Wallraff instrumentalisiert und ich nehme an, mit voller Absicht. Damit ist er nichts anderes als ein Manipulateur, ein Rattenfänger. Aber der investigative Journalist, der Abenteurer der Wahrheit, der Mann, der Missstände aufdeckte, von denen niemand etwas wusste, der ist er schon lange nicht mehr.
Der Autor Thilo Mischke sucht schon seit längerem nach einem neuen journalistischen Vorbild. Wenn Sie Helden-Vorschläge haben: @mischke_thilo