Vor 30 Jahren gegründet "You're my Butterfly, Sugar Baby": Wie der Musiksender VIVA meine Jugend prägte

Moderatorin Charlotte Roche im braunen Pullover im bunten Viva-Studio
Charlotte Roche im Jahr 2000 in der Sendung "Fast Forward" auf VIVA II
© IMAGO / teutopress
Vor 30 Jahren, am 1. Dezember 1993, ging Viva auf Sendung und beeinflusste eine ganze Generation. Unsere Autorin erinnert sich, wie das Musikfernsehen sie prägte. Eine Zeitreise von "Crazy Town" bis "Tocotronic".

Als ich ins Musikfernsehen hineingesogen wurde, war ich elf. Täglich war es dasselbe Ritual: Nach der Schule flog der Rucksack in die Ecke und mein Hintern auf das durchgesessene Familiensofa. Auf der Suche nach meinen Lieblingskünstlern schaltete ich manisch zwischen Viva, MTV und Viva II hin- und her, während in der Küche Mirácoli anbrannte. Ich hatte nur wenige Stunden Zeit, bis mein Stiefvater nach Hause kommen und die Fernbedienung an sich reißen würde. Er fand sie, egal wie tief ich sie in die Sofaritzen schob. Mein Stiefvater hatte keinerlei Verständnis für die Sehnsüchte einer Teenagerin. Zappte er aus Prinzip zu einem Fußballspiel, schaltete mein Körper auf Popkultur-Entzug.

Es war das Jahr 1999 und ich fieberte auf das Video zum Echt-Song "Denn du trägst keine Liebe in dir" hin. Vor der Erfindung von YouTube, die uns zur permanenten Abrufbereitschaft verdammte, galt – Warten. Jede Menge Rapper, Pseudorocker und strassbesetzte Frauen flimmerten vorbei. Und wenn schließlich kam, was man stundenlang herbeigesehnt hatte, saß man gerade auf dem Klo. Was haben Teenies, deren Eltern Privatfernsehen ablehnten, eigentlich den ganzen Tag lang gemacht?

Kribbelige Vorahnungen und Trockensex

Später bekam ich einen eigenen kleinen Röhrenfernseher, glotzte Viva und Co. nun ungestört in meinem Zimmer, oft bis spät in die Nacht. In den Minifilmen spielte sich ab, was fern von meiner Lebensrealität war, mich aber in den frühen Nullerjahren immer mehr interessierte: Großstadtleben. Coole Klamotten. Sex. Vor allem Musikvideos, in denen herumgemacht wurde, hatten es mir angetan, sie waren eine kribbelige Vorahnung von dem, was einmal sein könnte. Die öligen Tattoo-Boys von "Crazy Town" fand ich sexy und störte mich nicht an Zeilen wie "You're my butterfly, sugar baby". Im Video zum Maroon-5-Hit "This Love" machte Adam Levine mit einem Model Trockensex, der viel Spielraum für Interpretationen ließ. In "Are you in?" von Incubus kommt es zu einer Orgie, was in Zeiten ohne heimisches Internet schon beinahe als Porn durchging. Dass der Fokus auf sehr jungen, halbnackten Frauen lag, stellte ich nicht in Frage. Ich konzentrierte mich auf die braunäugige Laszivität von Sänger Brandon Boyd, den am Ende des Clips eine meerjungfrauenhafte Schönheit verführt.

Durch Musikfernsehen wusste ich, auf welche Typen ich stand, auch wenn es sie da draußen nicht gab. Ich wusste, wie ich sein wollte, auch wenn es unerreichbare Schönheitsideale waren. Ich wollte die knallroten Haare von Moderatorin Enie van de Meiklokjes, färbte mir heimlich rote Strähnen und bekam dafür Anschiss von meiner Mutter. Ich zupfte mir die Augenbrauen zu dünnen Strichen, so wie Gwen Stefani sie trug, probte ihre Posen aus dem No Doubt-Video "Underneath It All" und fotografierte mich mit Selbstauslöser. Meine ersten Selfies. Die Filme aus der Kamera brachte ich zum Entwickeln zu "Schlecker", eines der Fotos fiel mir vor kurzem aus einem alten Tagebuch entgegen. Ähnlichkeit mit Gwen Stefani? Nun ja. In einer Kleinstadt im hintersten Winkel Ostdeutschlands aufzuwachsen, schließt zum Glück nicht aus, groß zu träumen. Danke, Musikfernsehen. 

Who the Fuck is Dirk?

In den kommenden Jahren wurde ich ein Snob, der Mainstreammusik verachtete und dadurch zu einer sehr einsamen Teenagerin. Schuld daran war die alternative kleine Schwester von Viva, Viva II. Ich bewunderte Charlotte Roche, die so anders aussah und sprach und anscheinend geschickt Altkleider kombinierte – "Vintage" war mir noch kein Begriff. Ich verknallte mich mit leichter Verspätung in 90er-Bands wie Oasis und Tocotronic, obwohl ich keinen blassen Schimmer hatte, wer "Dirk" war und was er sich auf "Seattle" einbildete. Ich fand die melancholische Milchtüte im Blur-Clip zu "Coffee and TV" rührend und liebte von Air nicht nur den Song "Playground Love", sondern auch die Idee mit den sprechenden Kaugummis. 

Rempelt mich heute jemand in der Fußgängerzone an oder bin ich selbst in Rauflaune, fühle ich mich an Richard Ashcroft erinnert, wie er in "Bittersweet Symphony" durch die Gegend wütet. Auf einem Helsinki-Trip war ich enttäuscht, dass kein Mann auch nur annähernd wie Ville Valo in "Join Me in Death" aussah oder wenigstens Pelzmantel auf nacktem Oberkörper trug. Laufe ich an einem Strip-Schuppen vorbei, denke ich an die erotischste Stangentänzerin aller Zeiten: Kate Moss in "I Just Don’t Know What To Do With Myself" von dem White Stripes. 

Alles hat seine Zeit. So wie Hüfthosen

Musikfernsehen hat mir Bilder in meinen Kopf gepflanzt, die dort für immer Wurzeln geschlagen haben. Es vertrieb meine Langeweile, eröffnete mir neue Welten, inspirierte mich in Sachen Mode. Wenn ich heute auf Spotify Musik höre, läuft kein Film mehr dazu ab, ich weiß nicht, wie neue Künstler und Künstlerinnen aussehen, wenn ich nicht gezielt nach ihnen suche. Trotzdem vermisse ich Viva nicht. Alles hat seine Zeit. So wie Hüfthosen. Und die Beziehung meiner Mutter zum Stiefvater. 

In meinem letzten Urlaub liefen auf dem Hotelfernseher Nullerjahre-Clips in Dauerschleife. Christina, Britney und Beyoncé tanzten bauchfrei durchs Zimmer, Nickelback klang immer noch nach Halsweh. Die meisten Videos hatte ich längst vergessen. Ich verließ das Zimmer an diesem Tag nicht.   

 

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