Und weiter geht der pophistorische Exkursionstrip im deutschen Fernsehen, die Zeichen stehen auf Rückschau. Wieder- und ganz neuzuentdecken gibt es schließlich genug, im besten Fall wird daraus eine unterhaltsame Geschichtsstunde. So geschehen zuletzt etwa im Falle von Kim Franks Karriere-Aufarbeitung seiner 90s-Erfolgsband Echt oder der "VIVA-Story – Zu geil für diese Welt", die drei Dekaden Musikfernsehen in Deutschland noch einmal aufrollte.
Rollen ist ein gutes Stichwort: In der NDR-Doku "Hiphop – Made in Germany" steigen einige der Protagonisten zur Revision des eigenen Schaffens in einen, wie sollte es anders sein, cremefarbenen Mercedes Benz – "YO" ist passenderweise auf dem Kennzeichen zu lesen – und rollen durch ihre Stadt. Ein charmanter Verweis natürlich auch auf die Massiven Töne, die dem gemächlichen Drive durch die Hood einst ein Denkmal setzten: "Wir sind die Coolsten, wenn wir cruisen, wenn wir durch die City düsen", hieß´ es in ihrem Song aus dem Jahre 2002. Die Älteren werden sich erinnern.
Mit Anne Breer, Negar Ghalamzan, Thorsten Ernst, Banu Kepenek, Onur Kepenek, Max Rainer, Christopher Kaufmann und Nele Thumser gibt es gleich eine ganze Armada von Autoren, die beim neuen Mehrteiler mitgeschrieben haben, dazu waren Produktionsfirmen wie die gebrueder beetz aus Hamburg und die nordmedia beteiligt, ferner neben dem NDR auch der SWR. Man mag sich die vielköpfigen Kreativrunden um Aufbereitung und Konzept kaum vorstellen. Das Ergebnis jedoch kann sich sehen lassen.

Prominent-prägende Protagonisten sitzen vorn im Wagen
Auf vier Teile ausgelegt, bilden ebenso viele hiesige Hiphop-Hochburgen den konzeptionellen Rahmen, von den 80ern in Heidelberg über die 90er in Hamburg und die 00er in Berlin bis zum Hier und Heute in Frankfurt. Prominent-prägende Protagonisten sitzen vorn im Wagen, in Heidelberg etwa Martin Stieber von den Stieber Twins zusammen mit Advanced Chemistrys Toni L., in Hamburg wiederum Denyo von den Beginnern und Rapperin Eunique. Bedeutende Orte wie das Hiphop-Archiv in Heidelberg werden besucht, Ali Bumayes alter Block in Berlin, wo er zusammen mit Kitty Kat auf Tour ist. Alte Geschichten werden erzählt, die neuralgischen Punkte in der gleichermaßen kurzen wie langen Geschichte des deutschen Hiphops erinnert. Und es fügt sich all dies zu einem umfassenden Kaleidoskop des Phänomens Hiphop zusammen, einst aus aus den USA auf hiesige Militärbasen und MTV-Playlists geschwappt und von dort in Jugendzimmer und Proberäume. Und letzterdings, einem Marsch durch die Instanzen gleich, in die Charts. Historische O-Töne aus dem Autoradio, darunter Mauerfall und 9/11, sorgen für den politischen Kontext.

Ergänzt wird durch jede Menge Experten und Expertinnen, durch Weggefährten und Zeitzeuginnen, darunter: Autor und Labelmacher Marcus Staiger (Royal Bunker), Marina Buzunashvili und Patrick Mushatsi-Kareba vom Sony-Label, der Soziologe Aladin El-Mafalaani, Schwester Ewa und Disarstar, Smudo und König Boris – und die Wissenschaftlerin Heidi Süß, die für einen der schönsten O-Töne sorgt, prägnant und treffend: "Rap ohne Schimpfwörter ist nicht vorstellbar". Ebenfalls unbestritten: Wenn es um die Mutter geht – oder die ‚Mudder’, wie es im Norden heißt –, dann kann es schnell mal brenzlig werden.
"Rap ohne Schimpfwörter ist nicht vorstellbar"
Der Rhythmus der Sendungen ist zeitweise herausfordernd, der Wechsel zwischen den Schauplätzen und Geschichten, den Personen und Orten temporeich. Mal wird einiges an Kenntnis vorausgesetzt, dann wieder geht es in die Tiefe. Das mag nicht immer vollends stimmig sein, passt aber bestens zum Genre, das aus Samples und Querreferenzen geboren wurde. So wie Hiphop sich aus vielen Richtungen nährt, lokale Eigenheiten mit universeller Botschaft mischt, rare Samples mit weltbekannten Melodien, ist auch "Hiphop – Made in Germany" an- und ausgerichtet.
"Ob Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, ob Mauerfall, Hartz IV oder Corona-Krise – Hiphop hat sich mit all diesen Themen auseinandergesetzt, seinen Beitrag geleistet – und ist damit auch Chronik der jeweiligen Zeit", so Domenica Berger und Florian Müller (NDR SPIN), Timo Großpietsch (NDR Dokumentarfilm) und Maryam Bonakdar (SWR) in einem gemeinsamen Statement. "Diese Serie soll aber alles andere als trockener (Musik-)Geschichtsunterricht sein, sondern eine unterhaltsame und überraschende Zeitreise durch die Dekaden."
Genau das ist sie geworden. Ein ebenso kurzweiliger wie interessanter Trip down memory lane, gleichsam nostalgisch und hochaktuell. Der Benz kann losrollen.
Ab 23. Januar in der ARD Mediathek.
Im NDR Fernsehen:
Folge 1 Freitag, 26.1.2024, 1.00 Uhr
Folge 2 Freitag, 2.2.2024, 1.00 Uhr
Folge 3 und 4 Freitag, 9.2.2024, 1.00 Uhr