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"Germany's Next Topmodel" Die Geschichte der Transgender-Kandidatinnen Melina und Giuliana

GNTM Transgender-Models Melina Budde und Giuliana Farfalla
Auf der Sonnenseite: Melina Budde (links) und Giuliana Farfalla in Berlin. Seit sie als Frauen leben, fühlen sie sich wohl in ihrem Körper.
© Gene Glover
Auf den Laufstegen der Welt sind Frauen, die früher Jungs waren, sehr begehrt. Nun machen erstmals zwei Trans-Models bei "Germany's Next Topmodel" mit. Vom Kampf gegen die Grenzen der Geschlechter.
Von Christine Zerwes

Die Erkenntnis brach über ihn herein. Riss nieder, was bisher die Sicht versperrte. Plötzlich ergab alles einen Sinn! Die Traurigkeit, die ihn so oft überkam. Das Gefühl, falsch zu sein, nirgends dazuzugehören. Er war 15 Jahre alt, er sah das Video, den Mann, der seine Transformation zur Frau dokumentierte - und er wusste mit einem Schlag: Ich bin ein Mädchen.

GNTM Transgender-Model Melina Budde
Kampfgeist: Zwischen den geschlechtsangleichenden Operationen ließ sich Melina Budde Mutmacher-Sätze auf ihre Handgelenke tätowieren: Rechts steht "Keep Fighting", links "Stay Strong".
© Gene Glover

Vier Jahre später. Der Junge von einst trägt jetzt den Namen Melina. Aus dem Er ist eine Sie geworden, ihr voller Name: Melina Budde. Sie sitzt in einem Berliner Café und schlägt die langen Beine übereinander. Blonde Locken fallen über ihre Schultern, sie trägt einen engen schwarzen Rock, Sandalen mit Pfennig-Absatz und eine weiße Bluse. Um ihren Hals baumelt ein Schlüssel. "Er gehört zur Kommode, in der meine Mutter früher die Süßigkeiten versteckte", sagt sie. "Ich finde ihn einfach schön." Melina Budde ist gerade von Oberhausen nach Berlin gezogen. Die 19-Jährige will hier an ihrer Modelkarriere arbeiten und eine Ausbildung zum Hair & Make-up-Artist machen. Zwei Dinge unterscheiden sie von den meisten anderen, die sich mit Mode-Träumen in die Hauptstadt aufmachen: Budde kam im Körper eines Jungen zu Welt. Und sie hat es unter die 20 besten Kandidatinnen von Heidi Klums "Germany's Next Topmodel" geschafft.

Auf den Laufstegen der Welt sind Trans-Models gefragt

Tatsächlich ist inzwischen nicht nur in der Pro-Sieben-Show der "Transgender-Moment" angebrochen. Auf den Laufstegen der Welt wird die Mode präsentiert von Jungs, die mal Mädchen waren, und von Mädchen, die mal Jungs waren. Dieser Trend nahm seinen Anfang im Jahr 2011, als der gebürtige Bosnier Andrej Pejic als Männermodel durchstartete. Wegen seiner weichen, schönen Gesichtszüge buchten die Designer ihn auch für Frauenmode. 2014 beschloss Pejic, ganz als Frau zu leben, und unterzog sich einer Geschlechtsangleichung; sie heißt heute Andreja – und modelt erfolgreich weiter.

Der H&M-Ableger & Other Stories warb in seiner Herbst-Winter-Kampagne 2016 mit den Transgender-Models Valentijn de Hingh und Hari Nef. Das Cover der französischen "Vogue" für März 2017 ziert die schöne Brasilianerin Valentina Sampaio; auch sie kam als Mann zur Welt. Bei der jüngsten Fashion Week in New York schickte Marc Jacobs gleich drei Transgender-Models über den Laufsteg. Nicht als politisches Statement, wie Jacobs' Casting-Chefin Anita Bitton sagt. "Es ist einfach der Status quo."

Damals, vor vier Jahren, als sie das Video sah, wusste Melina Budde sofort, dass etwas geschehen musste.

"Mama, ich muss dir was sagen."

"Oje, was ist los?"

"Ich will ein Mädchen sein."

"Gott sei Dank, ich dachte schon, du nimmst Drogen."

Melinas Freunde reagierten meist mit Unverständnis

Die Mutter reagierte, wie es sich ein junger Mensch in so einer Krise wünscht: mit Liebe und Verständnis. Und sie half ihrem Kind, die nächsten Schritte zu gehen. Den Vater einweihen, Ärzte suchen, Therapeuten, dann die Operationen. "Es war eine harte Zeit, fast alle Freunde haben sich von mir abgewendet", erzählt Melina Budde. Aus jener Zeit stammen auch ihre Tätowierungen. "Keep Fighting" steht auf dem einen Handgelenk, "Stay Strong" auf dem anderen. "Zum Glück haben mich meine Oma, meine Eltern und mein Bruder immer unterstützt."

In dieser Staffel der Klum-Show gingen gleich zwei Trans-Frauen mit dem Tross auf Reise. Am 9. März war für Melina Budde Schluss. Noch immer dabei aber ist die 20-jährige Giuliana Farfalla.

Die Freiburgerin ist an diesem Tag aus ihrer Heimat angereist, um ihre ehemalige Mitstreiterin zu treffen. Schon im Alter von drei Jahren habe sie gewusst, dass sie ein Mädchen sein wolle, erzählt Giuliana Farfalla. Sie hat lange dunkle Haare und weiche, braungrüne Augen, die sie mit künstlichen Wimpern betont. Die beiden Frauen mögen sich, enge Freundinnen sind sie während der Dreharbeiten nicht geworden. Melina Budde wirkt ruhig und ernst. Sie hat lange über das heutige Gespräch nachgedacht. Kurz zuvor habe sie Zwiesprache mit ihrer verstorbenen Oma gehalten, sie um Kraft gebeten, damit alles gut gehe, erzählt sie.

Giuliana Farfalla hingegen lebt ganz im Jetzt. Sie kichert und erzählt, wie oft Fremde sie inzwischen auf der Straße ansprächen, die Show habe ihr unglaubliches Selbstbewusstsein gegeben. "So oft zu hören, dass ich stark bin und schön, das tut gerade mit meiner Geschichte einfach gut", sagt sie.

Die Topmodel-Jury, bestehend aus Klum, dem Designer Michael Michalsky und dem Werber Thomas Hayo, hat nie ein großes Thema aus Buddes und Farfallas Vergangenheit gemacht. Beide Frauen zeigten sich oft schüchtern und unsicher, wenn sie vor der Kamera in knappen Kostümen posieren sollten. Die Juroren nahmen es als das, was es ist: normal. Welche junge Frau ist schon entspannt, wenn sie sich ziemlich unangezogen den Fernsehkameras präsentiert?

Giuliana: "Ich wollte mir beweisen, dass ich das kann"

Auch ihre Familie, die Mutter und die drei Schwestern, hätten sie immer so sein lassen, wie sie es wollte, erzählt Giuliana Farfalla. Ihr erster Freund, damals war sie 16, half ihr, die Verwandlung durchzustehen - die Therapien, Operationen, Zweifel. In der Topmodel-Show mitzumachen sei seit der ersten Staffel ihr Traum gewesen. Sie sagt: "Ich wollte mir beweisen, dass ich das kann. Dass ich nicht ausgegrenzt werde, nur weil ich anders bin."

Nirgends umarmen sich Toleranz und Intoleranz so wie in der Modewelt. Ausgerechnet die Branche, die so viele Menschen ausschließt, weil sie zu dick, zu klein, zu hässlich sind, schafft immer wieder Platz für die Vielfalt - der Hautfarben, der sexuellen Vorlieben, der Geschlechter-Identität.

Die Mode dient immer auch als Gradmesser für Veränderungen in der Gesellschaft. In den vergangenen Jahren haben auch Prominente dazu beigetragen, dass die Aufmerksamkeit für Menschen stieg, die sich im falschen Körper geboren fühlen. So etwa der ehemalige Zehnkämpfer Bruce Jenner. Als der US-Amerikaner sich im Jahr 2015 in Caitlyn verwandelte, wurde sie dafür vom US-Magazin "Vanity Fair" auf dem Cover gefeiert. Oder Laverne Cox, Schauspielerin in der Serie "Orange Is the New Black", die als erste Transgender-Frau im Jahr 2014 für den begehrten Fernsehpreis Emmy nominiert wurde. Auch der Erfolg der Serie "Transparent" ist Zeichen für eine neue Offenheit. Die Geschichte erzählt von einem pensionierten Politikprofessor, der fortan als Frau leben will.

Transgender sind noch immer häufig Mobbing-Opfer

Hari Nef, eine der ersten Trans-Frauen mit weltweitem Modelvertrag
Hari Nef, eine der ersten Trans-Frauen mit weltweitem Modelvertrag
© Pascal Le Segretain/Getty Images

Hari Nef, die in "Transparent" mitspielt, traut der Transgender-Begeisterung in Mode und Film dennoch nicht ganz. "Früher gab es niemanden, jetzt gibt es 10, vielleicht 15 Transgender in der Öffentlichkeit. Das sind wenige, wo früher einfach keiner war“, sagte sie dem Magazin "New Yorker". Tatsächlich trauen sich zwar immer mehr Transgender, offen zu erzählen, dass die sich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen - in den USA hat sich die Zahl in nur einem Jahrzehnt verdoppelt. Zugleich aber richteten sich 2015 dreimal so viele Hass-Verbrechen in den USA gegen Transgender wie im Jahr zuvor. Nach wie vor sind sie häufiger Opfer von Mobbing und sexuellem Missbrauch. 41 Prozent der Trans-Frauen und -Männer haben schon einmal versucht, sich umzubringen.

"Bevor ich verstanden habe, was mich so traurig macht, habe ich auch darüber nachgedacht, alles zu beenden", sagt Melina Budde. "Heute weiß ich, dass ich mich so schlecht gefühlt habe, weil viele Menschen mir immer wieder gespiegelt haben, ich sei krank." Sie selbst habe sich nie als Freak empfunden. "Aber ich habe ihnen irgendwann fast geglaubt."

Wenn Designer heute Transgender-Models auf die Laufstege schicken, so wollen einige damit vor allem die Aufmerksamkeit für ihre Kollektionen erhöhen. Doch Mara Keisling, Direktorin des Nationalen Zentrums für Transgender-Gleichberechtigung in den USA, findet daran nichts verwerflich. "Natürlich benutzt uns die Modebranche", sagt sie, "aber das ist in Ordnung - wir benutzen sie ebenfalls."

Melina will die Grenzen in den Köpfen einreißen

GNTM Transgender-Model Melina Budde
Die 19-jährige Melina Budde fotografiert für die TV-Show "Germany's Next Topmodel". Die Sendung habe ihr Selbstbewusstsein gestärkt, sagt sie.
© Martin Bauendahl/ProSieben

Als Melina Budde sich entschied, bei "Topmodel" mitzumachen, wollte sie vor allem eines: die Grenzen in den Köpfen einreißen. "Es ist noch ein langer Weg bis zur Normalität", sagt sie. "Aber es ist schön, Teil dieser Bewegung zu sein." Die Show war für sie nicht nur ein Schritt in Richtung Modelkarriere. Es war ihre Chance, sich zu zeigen. Nun gibt es kein Zurück mehr, jeder weiß Bescheid - für Budde eine Befreiung. Sie rutscht nach vorn in ihrem Sessel und streckt den Rücken durch. Es ist ihr wichtig, was sie nun sagen will. Sorgsam wählt sie ihre Worte. "Ich möchte", sagt sie schließlich, "ich möchte, dass Eltern und vor allem Erzieher sich mit dem Thema auskennen. Oft denke ich, wenn meine Kindergärtnerin während ihrer Ausbildung schon mal davon gehört hätte, wie anders wäre meine Kindheit verlaufen." Die ganze Zeit habe sie einen Jungen gespielt, habe darüber nachgedacht, wie sie sich hinstellen oder die Hände halten solle. "Kein Wunder, dass so viele nichts mit mir anfangen konnten", sagt sie. "Jetzt darf ich endlich ich selbst sein, ein unbeschreibliches Gefühl!"

Normalität würde bedeuten, dass es keiner Erwähnung mehr bedürfte, wenn Trans-Frauen oder Trans-Männer bei einer Modenschau mitlaufen. Wenn sie einen Filmpreis gewinnen oder ihre Schönheit bewundert wird, ohne dass ein "Obwohl" mitschwänge.

"Ich möchte als Frau, nicht als Transgender-Model Erfolg haben", sagt Giuliana Farfalla. Und Melina Budde sagt: "Ich will keine Angst mehr haben, dass ein Mann, den ich toll finde, mich stehen lässt, wenn ich ihm meine Geschichte erzähle." Bisher hätten sich an diesem Punkt die Jungs stets abgewendet. Nicht unbedingt, weil sie selbst es schlimm fanden. Eher, weil sie Angst davor hatten, was Freunde und Familie dazu sagen würden. Melina Budde schaut auf und sagt: "Ist das nicht traurig?"

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