Herr Kienzle, was zieht Sie auf Ihre alten Tage ins Operettenfach?
Davon kann keine Rede sein. Ich habe im Sommer bei einer Open-Air-Aufführung des "Zigeunerbarons" in Altusried im Allgäu eine winzige Gastrolle übernommen. Ein Gag! Im Grunde handelte es sich um eine verdeckte Recherche.
Ihre wahre Mission?
Ich erfülle mir im Moment einen lang gehegten Wunsch: Ich schreibe ein Buch über die Schwaben. Und im Allgäu leben viele Schwaben mit einem spannenden Identitätskonflikt. Die Bajuwarisierung schreitet unaufhaltsam voran, der Anpassungsdruck steigt.
Und wie finden wir das?
Unerfreulich. Das bayerische Brauchtum ist heute dank der Medien ja hochpopulär. Kein Mensch weiß aber, dass diese ganze Folklore erst im 19. Jahrhundert entstanden ist. Gegen Bezahlung! Die bayerischen Vereine sind von ihrem König dafür belohnt worden, dass sie sich mit österreichischen Trachten kostümierten. Und so sind die Bayern heute als Tiroler verkleidet und nehmen Geld dafür, dass man die Berge besichtigen darf.
Schwabenfrust.
A bisserl Schadenfreude ist nach der CSU-Klatsche schon. Bei denen heißt's jetzt: Laptop und volle Lederhosen. Aber es stimmt schon: Als Schwabe befindet man sich automatisch am anderen Ende der Popularitätsskala. Mich interessiert, woher das kommt. Im Spätmittelalter waren die Schwaben überall als verluderter, versoffener Haufen bekannt. Heute gelten wir als geizig, verbiestert, unfroh.
Schicksal?
Nein. Das Ergebnis gelungener Zwangsumerziehung nach der Reformation. Dabei haben Schwabens Hardcore-Pietisten nie mehr als sieben Prozent der Bevölkerung ausgemacht. Die Fundamentalisten hatten trotzdem enormen Einfluss auf die Gesellschaft.
Wie Lafontaine. Sind Sie als alter Vorzeigelinker inzwischen aus der SPD ausgetreten?
Netter Versuch. Ich war nie drin. Die aktuelle Lage wäre aber eher ein Grund einzutreten. Die SPD befindet sich im Zustand der Selbstlähmung. Sie hat sich mit der Agenda 2010 schwer ins Knie geschossen und offenbart seitdem einen gewissen Laienspielcharakter. Und Lafontaine nutzt diesen Zustand gnadenlos für einen persönlichen Rachefeldzug.
Da spricht der politische Journalist. Zu Ihren besten Zeiten hatten Sie und Bodo Hauser mit "Frontal" rund sechs Millionen Zuschauer …
Nun ja, Sie wissen natürlich nie, wie viele davon nüchtern sind. Aber es ist schon erstaunlich: Ich werde noch heute ständig auf die Sendung angesprochen. Wenn sich heute einer solche Frechheiten erlauben würde wie wir damals - die Rundfunkräte würden in Permanenz tagen. Hauser und ich waren wohl so eine Art vorweggenommene Große Koalition. Abzüglich der Kompromisse.
Reizt es Sie nicht, ab und an noch mal zuzuschlagen?
Klar. Aber weniger in der Innenpolitik. Ich habe ja lange Jahre das "Auslandsjournal" moderiert. Zurzeit entsteht ein neues Weltmachtsystem: China und Russland zeigen, dass man ohne Demokratie wirtschaftlich erfolgreich sein kann. Und der Westen führt vor, dass er mit zweierlei Maß misst - siehe Irak und Georgien.
Und die Früchte Ihrer tiefschürfenden Analysen muss sich Ihre Frau anhören?
Ach was. Ich halte keine weltpolitischen Vorträge. Ich genieße mein Rentnerleben, denke still nach und verdämmere dabei vor einer guten Flasche Rheingauer Weins.