Ein Paar – fast immer Mann und Frau – küsst sich. Langsam und romantisch. Sie lassen sich auf ein Bett fallen. Ein kurzer Moment des Zögerns. Tun wir das jetzt wirklich? Dann ziehen sich die zwei überirdisch schönen Menschen gegenseitig aus. Aber natürlich behält die Frau ihren BH an. Im Hintergrund läuft leise Norah Jones. Wenn es ein bisschen schneller zugehen soll vielleicht Marvin Gayes "Let's Get It On". Oh, wir haben fast die Kerzen vergessen. Natürlich brennen überall im Zimmer Kerzen. Romantik und so. Dann geht es ein bisschen zur Sache. Wie genau wird nicht ganz klar, schließlich liegt doch zwischen den fast nackten Körpern noch ein dünnes Bettlaken. Nach ungefähr 30 Sekunden wird es dunkel. Der Akt wird vollzogen. Schnitt.
"Sex Education": Wie man den Koitus von Klischees befreit
So läuft Sex in den meisten Filmen und Serien ab. Das verliebte Paar schläft nach dem Koitus alsbald ein, auf Toilette muss niemand. Kondome werden praktisch nie thematisiert – sind ja auch nicht die ästhetischsten Dinger, geben wir zu. Ganz anders geht's in Netflix' neuer Hitserie "Sex Education" ab. Buchstäblich und sinnbildlich. Aber von vorne.
In der Eigenproduktion des Streamingsenders geht es um Otis Milburn (Asa Butterfield), einen 16-jährigen, schüchternen Jungen, dessen Mutter (großartig gespielt von Gillian Anderson) eine offenherzige Sex-Therapeutin ist. So offenherzig, dass sie ihrem Sohn eine gehörige Ladung Komplexe mit auf den Weg ins Erwachsensein gegeben hat.
Während Mama Jean sich im Nebenzimmer mit täglich anderen Männern um den Verstand vögelt, bekommt ihr Teenager-Spross schon bei der morgendlichen Erektion Panik. Sie solle bitteschön einfach von alleine weggehen, vertraut er sich seinem homosexuellen besten Freund Eric an.
Doch obwohl Otis – wer hätte es anders gedacht – Jungfrau ist und von dem Freimut seiner Mutter nur wenig abbekommen hat, entdeckt das intelligente Bad Girl der Schule, Maeve Wiley (Emma Mackey), in ihm Potenzial zum Therapeuten. Denn mit den sexuellen Problemen seiner Mitschüler konfrontiert, findet der Junge immer die richtigen Worte. Und so gründen er und Maeve eine "Sex Clinic" und nehmen Geld für Otis' wertvollen Rat. Das hält natürlich einige schräge Überraschungen bereit.
Viel Sex, viel Humor
Denn Held Otis beweist, dass sein Expertenrat keine Erfahrung erfordert, sondern vor allem das Talent und die Bereitschaft, seinen Mitschülern zuzuhören. Und die Probleme, die sie ihm schildern, sind nicht exklusiv für Teenager. So möchte ein Mädchen beim Sex das Licht ausschalten, weil es seinen Körper hasst. Ein lesbisches Paar hat Probleme zwischen den Laken, weil schlicht die Chemie fehlt, und ein Junge ist so verliebt in ein anderes Mädchen, dass seine Obsession im Verlauf der Serie zu Stalking wird.
Kommen wir zurück zum Sex. Denn den gibt es in den acht Folgen der ersten Staffel zu genüge. Gleich in der ersten Folge hält eine der Schülerinnen ein Kondom in die Kamera, in das ihr Freund Adam nicht ejakuliert hat. Sprich: Er hat ihr vorgetäuscht, zu kommen.
Ein paar Folgen später erforscht dieselbe Schülerin – nach Rat von Otis – erstmals ihren eigenen Körper und masturbiert bis zur Besinnungslosigkeit.
Statt zwei Menschen zu zeigen, die sich im Schneckentempo auf ein kuscheliges Bett fallen lassen, beweist "Sex Education", wie Sex auch sein kann: Mal schnell, mal langsam, gelegentlich ruppig, dann wieder zärtlich, oft ungelenk und mindestens genauso häufig verdammt lustig.
Diverser Cast, großartige Musik
Was "Sex Education" allerdings so besonders macht, ist nicht unbedingt der Sex selbst. Während der nämlich Hauptbestandteil und Nebensache in einem ist, geht es in der liebevollen Produktion um so viel mehr. Freundschaft unter Teenagern, das Leben als Außenseiter, Homosexualität – alle diese Themen werden so authentisch dargestellt und in den Fokus gerückt wie man es nur selten im Fernsehen sieht.
Gelobt wird die Serie außerdem für ihren diversen Cast – etwas, das in einer Millennial-Show des 21. Jahrhunderts sowieso indiskutabel sein sollte, es trotzdem aber oft nicht ist.
Obwohl "Sex Education" in einer ländlichen Idylle irgendwo in England angesiedelt sein soll, ist der Schauplatz und die Zeit, in der das Geschehen stattfindet, undefiniert. Der großartige Soundtrack erinnert an die Achtziger, die Schule eher an die USA als an Europa. Das soll vermutlich so sein.
Schmeißt die Klischees aus dem Fenster, wir brauchen Platz zum Vögeln
Denn die Köpfe hinter der Serie wollten sich, so scheint es, nicht allzu streng festlegen. Nach den ersten Minuten der Pilotfolge hat man den Eindruck, das alles schon oft gesehen zu haben. Da ist der sportliche Schüler, der den homosexuellen Eric regelmäßig gegen den Spind schleudert. Da sind die genauso zickigen wie wunderhübschen Mädchen, die beliebt und verhasst zugleich sind. Da ist Bad Girl Maeve, die jedem den Mittelfinger zeigt und eine Kippe nach der anderen raucht. Und da ist der schüchterne Otis, der – plump gesagt – von niemandem flachgelegt wird.
Doch je mehr die Figuren vorgestellt werden, desto mehr wird deutlich, wie mit den altbekannten Klischees gebrochen wird. Die coolen Typen sind genauso geplagt von Ängsten wie der neurotische Otis, Maeve ist eigentlich zart und intelligent und auch die freiheitsliebende Sex-Therapeutin Jean hat eine tiefere Ebene.
Und so gelingt der Show eine Balance aus Comedy und authentischer Ernsthaftigkeit, die einen geradezu zwingt, nach jeder Folge gleich die nächste zu gucken. Wer es also noch nicht getan hat, sollte sofort mit dem Bingen anfangen. Es lohnt sich.
