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Karneval Sehnsucht nach Kamelle und Kölsch – ein Rückblick in ein Land vor unserer (Corona-)Zeit

Ein Zeppelin mit der Aufschrift «bliev zohuss» vom Karnevalscorps Rote Funken fliegt über die Kölner Altstadt.
Spazieren gehen statt Schunkeln, Couch statt Kneipe: Dieses Jahr heißt es für den Karnevalisten: "Bliev zohuss"
© Rolf Vennenbernd / DPA
Zweiter Lockdown statt fünfte Jahreszeit: Weiberfastnacht müssen Karnevalisten dieses Jahr zu Hause feiern – oder besser gar nicht. Unser Autor ist selbst Exil-Kölner und blickt wehmütig auf ein Fest zurück, für das es zwar keine Erklärung, aber eine Menge Gründe gibt. 

Es ist 11.11 Uhr am 11. Februar 2021. Ich sitze vor dem Laptop. Unkostümiert. In Hamburg. Nebenbei läuft der wohl traurigste Stream, den sich ein Exil-Kölner an Fastelovend anschauen kann: Die Kölschrocker von "Kasalla" spielen aus dem Rewe am Barbarossaplatz. Danke, Corona. Zeit für einen Rückblick in ein Land vor unserer (Corona-)Zeit.  

Mett, Kölsch und die Höhner

Letztes Jahr um diese Zeit: In einer Wohnung in der Kölner Südstadt stoße ich mit dem dritten Reissdorff-Kölsch mit einem Indianer (dem Gastgeber), einem Weihnachtsmann, drei Ringelshirtträgern und einem Waschbären an. Mit mir sind es sogar zwei Waschbären. Dass der 20-Euro-200-Prozent-Polyester-Overall nicht gerade von sprudelnder Kreativität zeugt, möchte ich gar nicht abstreiten. Aber er hält warm – und das ist die Hauptsache. Denn Kölner Karneval findet für die meisten auf der Straße statt. Nicht, weil das Nippen an zu kaltem Bier, in zu dünnen Klamotten, in rheinländischem Usselwetter "echt kölsch" wäre. Nein, Menschen wie ich tendieren lediglich dazu, den Straßenkarneval zu glorifizieren, weil es leichter ist – schließlich kommt man eh nirgendwo mehr rein. 

Aber ich greife vor. Auf das dritte Kölsch folgt das vierte Mettbrötchen mit zu viel Zwiebel. Obwohl mein Körper ob der absurden Menge Bier und rohem Schweinefleisch noch vor dem Mittag an jedem anderen Tag des Jahres auf die Barrikaden gehen würde, fühle ich mich wohl. Gute Laune ist nun einmal Pflicht an Weiberfastnacht. Mittlerweile sitzt der Indianer am Klavier und spielt Lady Gagas "Pokerface", während aus dem Fernseher die Höhner lautstark protestieren.

Zwei Stunden, dreieinhalb Bier, zwei Mettbrötchen und zu viele Zigaretten später, machen wir uns auf den Weg. Wir wissen zwar nicht wohin, aber die Richtung stimmt. Auf knapp hundert Metern Entfernung sehen wir, wie sich drei Hogwarts-Schüler und zwei Air-Force-Piloten an den Kragen gehen. Als wir an ihnen vorbei schlendern, liegen sie sich in den Armen und grölen "Et jitt kein Wood" von Cat Balou.  

Feiern in der Kloschlange

Schließlich stehen wir am Chlodwigplatz in der Kölner Südstadt und machen genau das, was wir vor einer Stunde noch drinnen im Warmen getan haben, nun jetzt im Regen. Der Indianer und ich laufen auf der Suche nach dem nächsten Dixi-Klo Slalom durch Pfützen aus Bier, Erbrochenem und Regen – in dieser Reihenfolge. In der Schlange freunden wir uns fürs Leben mit Donatello und Michelangelo von den Ninja Turtles an. Unsere Gruppe ist anschließend natürlich spurlos verschwunden. Mein Handy ist keine Hilfe - das Netz ist so überlastet wie meine Leber. So geht das vier Stunden. Am Ende finden wir uns wieder. Waschbär Nummer Zwo und der Indianer haben allerdings genug für heute – Kräfte sparen. Am Samstag geht es weiter.

Der "echte" Karneval

Um es frei nach Torsten Sträter zu sagen: Als ich am Samstagmorgen aufwache, war es früher Nachmittag. Der Pelz auf der Zunge, die Zwiebeln im Rachen und das jecke Treiben im Magen hindern mich nicht daran eine Stunde später aufs Neue anzustoßen – diesmal bin ich der Gastgeber. Naja eigentlich ist es meine Mutter – aber die ist dieses Jahr an die Mosel geflüchtet. "Die haben wieder unseren Song gespielt", lacht mein Gegenüber im Maler-Kostüm, als er den Kronkorken der dritten Flasche mit einem hörbaren "Plopp" sprengt. Die übrigen Anwesenden –  einmal Ringelshirt, einmal erschreckend ungetreuer Superman – nicken zustimmend.

Heute steht Dorfkarneval an. In den Kölner Vororten wird sich gerne damit gebrüstet "den richtigen Karneval" zu feiern – schließlich bleiben hier die Straßen noch frei von Sauftouristen. Wieder in den Waschbär-Anzug zu schlüpfen hat mich einiges an Überwindung gekostet – vor allem deswegen, weil ich nicht allen klebrigen Stellen einem konkreten Ursprung zuordnen kann. Ein Blick vom Balkon verrät mir schließlich: D'r Zoch kütt! Auf beiden Seiten der schmalen Straße drängen sich Jecke im Alter von eins bis 99 Jahren. Wir greifen uns die größten Aldi-Tüten, die wir finden können, und stellen uns dazu. Vorher haben wir im Dorfkiosk noch einen Kasten Reissdorf zum Schnäppchenpreis von 35 Euro erstanden. Über vier Stunden bahnt sich Gruppe für Gruppe, Traktor für Traktor seinen Weg durch den Vortort im Kölner Süden. Kinder wuseln auf der Suche nach dem einen heiligen Snickers in einem Meer von Discounter-Bonbons, Taschentüchern und Fertig-Popcorn durch die Beine schunkelnder Erwachsener. Diese wiederum beruhigen ihre von "Kamelle!" und "Strüßje!" -Rufen geschundenen Kehlen mit Unmengen Kölsch.  

Als der Zug vorbei ist, sind meine Taschen und ich voll. Wer noch nie gesehen hat, wie die Stadtreinigung am Ende eines Karnevalszuges die Straßen blank fegt, hat keine Vorstellung vom Wort "Professionalität". So stehen wir am Ende da: durchnässt, erschöpft und glücklich. Ringelshirt und Superman haben genug von der Provinz, sie wollen noch "in die Stadt". Außerhalb der Session bedeutet "in die Stadt fahren" für uns Vorortler eigentlich nur, zwei Stunden über die Schildergasse sprinten und schnellstmöglich wieder das Weite zu suchen. Heute heißt das: Eineinhalb Stunden Bus- und Bahnfahrt, nur um dann irgendwo anders nicht reinzukommen. Da bleiben der Maler und ich lieber in der Dorfkneipe. Es sollte die richtige Entscheidung gewesen sein.

Zurück im Februar 2021. Rückblickend würde ich für diese "Erinnerungen" nicht die Hand ins Feuer legen. Vielleicht war letztes Jahr niemand als Weihnachtsmann verkleidet, vielleicht hat es an Weiberfastnacht nicht geregnet. Über die Jahre hinweg sind die Karnevalstage für mich in einem Dunst aus Konfetti, Kölsch und Kamelle verschwommen. Das Prinzip bleibt das gleiche.

Dass sich Abertausende fremde Menschen in den Armen liegen, singen, und (teilweise) unmaskiert Küsschen auf die Wangen drücken, wirkt auf mich heute fast utopisch. Ja, Karneval ist laut, dreckig und verrückt. Aber genau danach sehnen wir uns doch, oder? Vielleicht verstehen in diesem Jahr auch alle Nicht-Karnevalisten die Sehnsucht nach Ekstase. Ich jedenfalls vermisse es.  

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