In meinem Keller gibt es ein Regal, auf dem alle Nachbarn alte Bücher zum Verschenken abstellen. Ab und zu schleicht sich auch mal ein Gesellschaftsspiel oder eine DVD ein. Vor Kurzem half mir ein guter Kumpel, irgendwelche schweren Dinge in die klammen Kellerräume zu schleppen. Als wir an dem Regal vorbeiliefen, entfuhr ihm ein kurzer, schriller Schrei: "CATAN!!!" "Äh, ja", sagte ich, "ist zu Verschenken. Willste haben?" Ihr hättet seine Augen sehen müssen. Hätte er seine Oma dabei gehabt, hätte er sie mir vermutlich vor lauter Dankbarkeit überreicht.
Es stellt sich heraus, er und seine Kumpels treffen sich tatsächlich in regelmäßigen Abständen, um ganze Abende mit rauchenden Köpfen über dem Catan-Spielbrett zu verbringen. Ich wusste zwar immer, dass Spielen in meiner Familie noch sehr groß geschrieben wird, aber dass Gesellschaftsspiele inzwischen auch wieder den Einzug in die biergetränkten WG-Wohnzimmer dieser Welt gehalten haben, darüber war ich mir nicht klar.
Der Spielemarkt veröffentlicht nach wie vor Rekordzahlen
"Sie waren nie so richtig weg", sagt Martin Klein. Der 31-Jährige ist Spieletester und seit 2014 Mitglied der Kritiker-Jury "Spiel des Jahres". "Man hat so Ende der 90er, Anfang der 00er-Jahre gedacht, dass die Videospiele die Gesellschaftsspiele vielleicht verdrängen würden, das ist aber nicht so. Das ist eher etwas, was miteinander existieren kann, weil die Intentionen ganz andere sind. Beim Gesellschaftsspiel will man gemeinsam Zeit verbringen, am Tisch sitzen und sich in die Augen gucken. Der Markt wächst nach wie vor. Es werden tatsächlich jedes Jahr neue Rekordzahlen veröffentlicht."
Auf seinem Youtube-Kanal "Spielerleben" stellt Martin regelmäßig neue Spiele vor – so etwa 200 im Jahr, mal mehr, mal weniger ausführlich. Klingt, als würde das ganz schön viel Zeit fressen. Er habe gerade extra nochmal nachgeschaut, wie viel Zeit er im Jahr mit Spielen verbringe, lacht er. Dafür gibt es eine App. "2017 habe ich 224 verschiedene Spiele gespielt und das 791 Mal. Da sind natürlich auch Spiele dabei, die gehen nur zehn Minuten. Aber auch welche, die 3 Stunden dauern. Ich treffe mich mehrmals die Woche mit Freunden und Arbeitskollegen, und meine Partnerin spielt zum Glück auch sehr gerne. Also die Zeit, die andere vielleicht vor dem Fernseher verbringen, verbringe ich am Spieletisch."
Im echten Leben ist Martin Beamter, hat also einen ganz normalen, geregelten Tagesablauf. Das Spielen ist komplett Freizeitgestaltung. Selbst seine Teilnahme an der Kritiker-Jury ist ehrenamtlich, er wird dafür nicht bezahlt. Und auch die anderen 14 Kritiker, die entweder wie er selbstständig über Spiele bloggen, oder "Journalisten im klassischen Sinne" sind, machen sich diese Extra-Arbeit freiwillig. "Der Verein hat sich als Ziel gesetzt, das Spielen als Kulturgut zu fördern", sagt er, "das ist unser Enthusiasmus, der da reinfließt".
Wie wird das "Spiel des Jahres" ausgesucht?
Am 23. Juli wird in Berlin das "Spiel des Jahres 2018" gekürt. Aber worauf achtet man als Spiele-Jury bei sowas? Was muss ein "Spiel des Jahres" können? "Es soll etwas sein, was man auch ohne große Vorerfahrung spielen kann", sagt Klein. "Wir suchen das Spiel aus, das wir am ehesten als Botschafter für die vielen Möglichkeiten auf dem Spielemarkt sehen. Botschafterspiele, Türöffnerspiele. Es muss eben nicht immer die Spielesammlung mit den 100 Varianten von 'Mensch ärgere dich nicht' sein. Innovation ist zwar nicht das einzige Kriterium, aber wenn man jetzt die zehnte Variation von einem altbekannten Spiel hat, dann ist das eher nichts, was für die Liste in Frage kommt."
Und wie steht er dann zu so Spieleklassikern wie "Monopoly" oder eben "Siedler von Catan"? "'Monopoly' und Catan in einem Satz ... Catan finde ich immer noch super. Das ist ein Spiel, was toll Türen öffnen kann, auch wenn es inzwischen 23 Jahre auf dem Buckel hat. 'Monopoly' merkt man eigentlich an, dass es nicht mehr zeitgemäß ist. Das kennen viele Leute aus der Kindheit und kaufen es dann uninformiert aus Nostalgiegründen wieder. Oder weil sie denken, 'Naja, da gibt es so viele Varianten von, das muss ja ein super Spiel sein.' Das ist so die Sache, von der wir mit dem Preis wegwollen. Also ich will jetzt niemandem 'Monopoly' versauen, aber wir wollen eben noch andere Möglichkeiten aufzeigen."
Zu erkennen, wohin sich die Spiele-Trends entwickeln, sei schwierig, weil jedes Jahr neue Spiele im hohen dreistelligen Bereich auf den Markt kommen, aber: "Seit dem letzten Jahr sind zum Beispiel Escape Rooms als Spiel sehr beliebt. Und auch Spiele, die Wert auf eine Erzählung legen, sind immer mehr im Kommen. Legacy-Spiele zum Beispiel. Das sind meist komplexere Spiele, die sich in jeder Partie verändern und aufeinander aufbauen. Man spielt mit einer Gruppe los und dann kommen in der zweiten Partie vielleicht Aufkleber, die auf das Spielfeld geklebt werden oder Karten, die neu ins Spiel kommen, oder man muss Karten zestören. Und dadurch entwickelt sich das Spiel, während man es spielt."
Rund 1500 Spiele hat der Fan bei sich zu Hause
Die Liebe zum Spiel hat inzwischen nicht nur die Freizeit des Bloggers eingenommen, sondern auch immer mehr Platz in seinem Haus: "Ich habe ein ganzes Zimmer nur für Spiele, aber das reicht nicht mehr, weshalb das definitiv schon in den Rest des Hauses schwappt. Ich hab zur Zeit ungefähr 1500 Spiele in meinem Haushalt, weiß aber zu 99 Prozent welche Spiele ich besitze und würde sagen, dass mir vielleicht 400 davon wichtig sind." Und tatsächlich kann er bei diesen vielen Spielen sagen, welches sein allerliebstes ist: "Das ist für mich schwer, weil ich das ganze Jahr über Neuheiten spiele. Da bleibt nicht viel Zeit, um seine Lieblingsspiele wirklich nochmal zu spielen. Aber wenn ich jetzt überlege, was ich mit in den Urlaub nehme, dann ist das vor allem 'Codenames'." ["Spiel des Jahres 2016"; Anm. d. Red.] [Ebenfalls favorisiertes Urlaubsspiel meiner Familie; Anm. d. Autorin]
Nur ein eigenes Spiel zu entwerfen, das würde ihm nicht einfallen: "Das würde meine Unabhängigkeit als Spielekritiker beeinträchtigen und das möchte ich nicht. Dafür macht es mir zu viel Spaß."
