Für die Anwohner im Karlsruher Stadtteil Neureut war es ein nie zuvor gesehenes Schauspiel, das sie in der Nacht auf Mittwoch von Balkonen und Gartenterrassen verfolgten: Ein Zug mit rund 60 Tonnen Atommüll rollte auf einem Straßenbahngleis direkt unter ihnen vorbei. Zuvor hatte die Polizei 350 Demonstranten von den Schienen getragen und in Gewahrsam genommen, die den gefährlichen Transport mit einer Sitzblockade aufhalten wollten. "Hoffentlich geht alles gut", bangte eine Anwohnerin vor Ankunft des Atommüll-Zuges, "meine Kinder sitzen auch auf den Schienen".
Mit der Ankündigung einer "Nachttanz-Demonstration" hatten die Atomkraftgegner zahlreiche Medienvertreter auf den Festplatz des Karlsruher Stadtteils Neureut gelockt. Doch statt Nachttanz war kurz vor Mitternacht ein Nachtmarsch im Eiltempo angesagt, an dem sich rund 700 zumeist jugendliche Demonstranten beteiligten. Über dunkle Wege und Wiesen mit Kaninchenlöchern trieb ein unsichtbarer Impresario die Menge per Megaphon voran: "Wir gehen zügig in Richtung Atomausstieg", und bekam aus der Menge zur Antwort: "Hey, das ist aber ein weiter Weg!"
An einer Engstelle unter den Wohnhäusern angekommen und von der Polizei bereits mit Flutlichtmasten erwartet, hielt die gelöste Stimmung auch auf den Gleisen an. Mit Sprechchören, Gesängen und lauten Einlagen einer Trommlergruppe machten die Demonstranten ihrem Anliegen Luft und erklärten Medienvertretern den aus ihrer Sicht gefährlichen und sinnlosen Atommülltransport.
Er war aus Sicht der Bundesregierung nötig, um den Atommüll aus der stillgelegten atomaren Wiederaufbereitungsanlage knapp zehn Kilometer nördlich von Karlsruhe in das Zwischenlager Lubmin bei Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern zu transportieren. Der in Karlsruhe "Atomsuppe" genannte flüssige Müll war zwischen 1971 und 1990 in der bundeseigenen Pilotanlage bei der Wiederaufbereitung abgebrannter Kernstäbe angefallen und in Glas eingeschmolzen worden.
Dass der Müll nun auf eine 800 Kilometer lange Reise geht und wieder nur in einem Zwischenlager landet, sei nichts als Aktivismus, der bemänteln soll, dass die Endlagerung atomaren Mülls weiter ungelöst ist, kritisierten die Demonstranten.
Mitten auf den Gleisen saßen auch einige 17-jährige Schülerinnen, die ohne Wissen der Eltern aus dem knapp 70 Kilometer entfernten Bad Dürkheim angereist waren und sich nun ein wenig sorgten, ob sie womöglich allzu robust von der Polizei weggetragen würden.
Doch die umsichtig agierenden Beamten ließen rund 350 Blockierer zunächst mehr als eine Stunde sitzen, damit sie sich auch physisch abkühlten. Erst gegen zwei Uhr am frühen Morgen traten die Polizisten in einer langen Reihe an und fragten zunächst jeden der Blockierer höflich, ob er weggetragen werden wolle oder doch lieber auf eigenen Beinen das Gleisbett verlassen werde.
Der Mann mit dem Megaphon kommentierte diese weitestgehend friedliche und von beiden Seiten mit Routine angegangene Räumung: "Hallo, die Beamten da vorne, bitte machen Sie Ihren Job ordentlich und lassen keinen fallen, und unsere Trommler dort gehen bitte ein Stück zurück." Und er teilte der Menge noch während der Räumung mit, dass ihre Aktion von der Anti-Atom-Bewegung bis nach Lubmin bereits als großer Erfolg gefeiert werde.
Eine vor Kälte zitternde ältere Dame, die von zwei hünenhaften Polizisten überaus fürsorglich aus dem Schotterbett in das polizeiliche Gewahrsam geleitet wurde, freute die Meldung sehr: "Ich mache das alles für meine beiden Enkelchen, wissen Sie. Haben Sie auch Kinder?", fragte sie die Polizisten.
Als der etwa 80 Meter lange Zug dann kurz vor vier Uhr morgens die Häuserfront in gemächlichem Tempo passierte, waren die meisten Fenster und Balkone wieder dunkel. In den zwei Tagen, die der Transport bis nach Lubmin braucht, haben Atomkraftgegner rund 40 weitere Aktionen geplant. Die in Karlsruhe verbuchten beide Seiten als Erfolg.