Belgien, Schweden, Österreich – sie alle haben der Kohle den Rücken gekehrt. Auch in Deutschland soll es bald so weit sein. Per Gesetz soll der deutsche Kohleausstieg bis spätestens 2038 vollzogen werden.
Ganz anders die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt: China hat im ersten Halbjahr 2025 so viel Kohlekraft neu ans Netz genommen wie zuletzt im Jahr 2016. Einer Analyse des Zentrums für Forschung zu Energie und sauberer Luft (Crea) zufolge schloss die Volksrepublik Kraftwerke mit einer Gesamtkapazität von 21 Gigawatt an. Das ist ein Spitzenwert für ein erstes Halbjahr seit 2016. Insgesamt dürften in diesem Jahr Kraftwerke mit einer Gesamtkapazität von mehr als 80 Gigawatt ans Netz gehen, schätzen die Crea-Experten.
Das ist erstaunlich, weil China gleichzeitig stark auf den Ausbau von erneuerbaren Energien setzt. Für 2025 rechnet Crea mit einem Zubau von mehr als 500 Gigawatt bei Wind und Sonnenenergie.
Auch Chinas Kohleboom endet irgendwann
Nils Grünberg, der sich am Mercator Institute for China Studies (Merics) mit Chinas grüner Transformation beschäftigt, hat eine Erklärung für die scheinbar paradoxe Strategie. Laut Grünberg gebe es die Pläne zum Bau der Kohlekraftwerke schon seit geraumer Zeit, sie seien besonders in den Jahren 2022 und 2023 vorangetrieben worden. Nach Stromausfällen im Zuge von Hitzewellen legte Peking verstärkt den Fokus auf neue Kraftwerkskapazitäten – schnell gebaut, zuverlässig verfügbar. Insgesamt verringere sich die chinesische Stromerzeugung durch Kohle jedoch jährlich um ein bis zwei Prozent, sagt Grünberg. Im Jahr 2024 machte in China die Stromerzeugung durch Kohle knapp 58 Prozent aus. Auf die erneuerbaren Energien entfielen rund 20 Prozent. In Deutschland ist es genau umgekehrt: Der Strom stammt zu knapp 60 Prozent aus erneuerbaren Energien.
"Chinas Klimapolitik wird von Energie- und Wirtschaftspolitik bestimmt, nicht andersherum, und die Regierung hat erkannt, dass erneuerbare Energien wirtschaftlicher sind und ein großer Wachstumsfaktor", sagt Grünberg. Am Ende sei es Chinas Wirtschaft, die Chinas Klimapolitik vorantreibe.
Kohle als Vorsichtsmaßnahme
Warum aber diese scheinbar paradoxe Doppelstrategie? Die Regierung will damit vorsorgen, falls die Erneuerbaren nicht genügend Strom liefern – beispielsweise wegen ungünstiger Witterung. In einem solchen Fall können Kohlekraftwerke flexibel hochgefahren und auch wieder gedrosselt werden. Die Crea-Experten monieren jedoch, jedoch, dass Chinas Kohlekraftwerke lediglich darauf ausgelegt seien, hochgefahren zu werden, in Zeiten von genügend Sonne und Wind jedoch nicht abgeschaltet würden.
Zudem bemängeln die Fachleute, dass Lokalregierungen den Bau neuer Kohlekraftwerke als einfache Lösung ansehen, um ihre Stromkapazitäten zu sichern. "Zwischen den Provinzen gibt es Koordinierungsprobleme und der Strom wird nicht unbedingt in die nächste Provinz geleitet, falls zu viel oder zu wenig da ist", sagt Grünberg zum stern. Kritiker befürchten, dass so regionale Versorgungspflichten in den Vordergrund rücken – und nicht der Klimaschutz.
Ich denke, dass wir in den letzten Jahren der Blütephase sind
Zudem fehlt China eine Strategie für den Kohleausstieg. 2060 will das Land klimaneutral sein. Im anstehenden Fünfjahresplan hat Peking seine Klimaziele aber noch nicht berücksichtigt. Dennoch geht Grünberg davon aus, dass Kohlegenehmigungen demnächst zurückgehen werden. Der Bauboom sei weder notwendig noch gebe es marktwirtschaftliche Gründe, sagt Grünberg. Viele Kohlekraftwerke liefen ohnehin nur mit halber Auslastung. China wisse längst, dass erneuerbare Energien die billigere und sauberere Alternative seien. "Ich denke, dass wir in den letzten Jahren der Blütephase sind und Kohle immer weniger relevant wird", meint der Experte.
Zwar böten die Werke viele Arbeitsplätze, aber die Tätigkeiten würden mechanischer werden. Zudem investierten einige große chinesische Kohleunternehmen ebenfalls in erneuerbare Energien. Die chinesische Kohlelobby, sagt Grünberg, werde so in den kommenden Jahren an Bedeutung verlieren.