Es ist ein lauer Montagabend, als Bauer Scheffler die Sache mit dem Deich in die Hand nimmt. Die Dorfbewohner haben sich bei Barthels im Landgasthof versammelt, wie jeden Abend, seitdem der Landrat den Katastrophenalarm ausgerufen hat. Scheffler, der Schweinezüchter, Chef der Freiwilligen Feuerwehr und Vorsitzender des Karnevalsvereins Rot-Gelb. Hentschel, der Elektriker. Schütt, der Schlosser. Und die 80 anderen, die geblieben sind. Die Alten und die Kinder haben sie rausgeschafft aus dem Dorf.
Eine Million Säcke auf zwei Kilometern
Das Wasser steht einen halben Meter hoch an den Sandsäcken, die sie noch bis vor ein paar Stunden zusammen mit den Soldaten um das Dorf gelegt haben. Eine Million Säcke auf zwei Kilometern, 1600 Tonnen Sand. Die Frauen haben geschippt, die Männer geschleppt. Dann war die Bundeswehr plötzlich weg. "Befehl von ganz oben", sagt Scheffler, "einfach abgezogen."
Kurz danach Dammbruch im Nachbarort Seegrehna - das Wasser drückt gegen den Wall. "Das ist doch alles kein Zufall", glaubt der Bauer. "Die haben den Deich gesprengt. Die wollen uns ersaufen lassen." Deshalb müssen sie handeln. Sofort. »Das ist reine Notwehr."
Mitten in der Wanne liegt Rehsen
Mit dem Trecker fahren sie von Haus zu Haus, sammeln ein, was noch da ist: Spitzhacken, Spaten, Schaufeln. Zwei Meter hoch ist der Wall am westlichen Ende des Dorfes. Wie der fest sitzende Stöpsel einer Badewanne stoppt er die Flut, die nun nicht weiter ablaufen kann. Mitten in der Wanne liegt Rehsen, 305 Einwohner, ein Gasthof, eine Pension, eine Disco, eine Fahrschule und eine Gärtnerei. Voriges Jahr haben sie den 800. Dorfgeburtstag gefeiert.
Zuerst versuchen sie, ein Loch in den Erdwall zu graben. Doch die Wurzeln sind zu fest. Einer hat die Idee, es mit den Feuerwehrspritzen zu versuchen. 5000 Liter Wasser pro Minute, 25 Bar Druck, der alte Deich gibt schnell nach. Einen Meter breit ist der Graben, den sie in den Erdhügel spritzen, und das Wasser strömt ab wie ein reißender Fluss.
Der Landrat und die "Anarchie"
Ein Polizeihubschrauber kreist, richtet den Lichtkegel auf sie. "Verlassen Sie sofort den Deich", tönt es aus dem Lautsprecher. Doch da ist es zu spät: Das Wasser reißt den Deich weg, auf einer Länge von 20 Metern. Flutet die Felder rings um Rehsen, rüber bis nach Riesigk. Verwandelt die Idylle in der Mitte Sachsen-Anhalts in eine große Seenlandschaft und Rehsen in eine Insel. Der Landrat spricht im Radio von "Anarchie", die Staatsanwaltschaft kündigt Konsequenzen an. Bei Barthels im Gasthof gibt es an diesem Abend Freibier und Brote mit Saumagen und Zwiebeln. "Oh happy day" singt Daniel, der Akkordeonspieler. Und Bauer Scheffler kippt ein Holsten nach dem anderen. "Eigentlich wollten wir, dass das Wasser kontrolliert abläuft", sagt er. Dass der Damm so weit aufbricht, damit hat er nicht gerechnet.
Zwei Tage später steht Klaus Scheffler auf einem Haufen von Sandsäcken und blickt auf das Ende seiner Existenz. Der provisorische Wall an seinem Hof hat doch nicht gehalten. Das Wasser ist nicht schnell genug abgeflossen. Es hat die vier Ställe und die 90 Hektar Ackerland überflutet. 1,20 Meter hoch steht es in den Gebäuden, 200 Ferkel sind ertrunken, knapp 150 konnten sie noch retten. Auf Styroporplatten, in Mülltonnen und Jutesäcken haben sie die kleinen Schweine rausgeholt. Die alten Sauen konnten sich selbst befreien. Sie belagern den Platz vor der Gemeindeverwaltung, ein grunzendes Treiben, einige haben schon Sonnenbrand.
"Rechtlich alles einwandfrei"
Eine Sau haben sie vorhin noch bei Hentschels auf dem Sofa gefunden. Sie hat die Couch zerbissen, ins Bad geschissen und den Teppich zerfetzt. Trotzdem, sagt Klaus Scheffler, sei es richtig gewesen, was sie da gemacht haben. "Sonst wär jetzt nicht nur mein Hof unter Wasser, sondern das ganze Dorf." Die "Genehmigung" für den nächtlichen Deichbruch hat er sich im Nachhinein vom Verwaltungsleiter geholt. "Rechtlich alles einwandfrei", sagt er, "so seh ich das jedenfalls." Den Bürgermeister haben alle längst abgeschrieben. Der habe nur vorm Fernseher gesessen und nichts getan.
Bei Uwe Grampe steht das Wasser zentimeterhoch in der Küche. Es kam, nachdem die Rehsener den Damm geöffnet hatten. Die sechs Höfe sind überflutet in Schönitz, dem kleinen Ortsteil von Riesigk, zwei Kilometer von Rehsen entfernt. Uwe Grampe lebt mit seiner 69-jährigen Mutter auf dem alten Hof. Sie haben sieben Enten, zwei Schweine, 30 Hühner. In der Hütte von Lumpi, dem Hund, wohnen jetzt die Enten, - der Garten ist überflutet. Uwe Grampe hat keinen Strom mehr, kein warmes Wasser, und wenn er auf die Toilette muss, setzt er sich auf den Fenstersims: Die Klärgrube ist überflutet.
Vielleicht helfen die Nachbarn
Zuerst, sagt Uwe Grampe, war er sauer auf die Rehsener. Stinksauer. Wie seine Nachbarin Bärbel, die einen Rechtsanwalt einschalten will. Aber dann hat er überlegt, dass sechs überflutete Häuser nichts sind gegen ein ganzes Dorf. Dass er die Rehsener, zu denen auch seine Schwester Laila gehört, doch irgendwie verstehen kann. "Hätten die das nicht gemacht", sagt Uwe Grampe, "dann wären hier alle Dörfer überflutet". Darum wartet er einfach, bis das Wasser wieder abfließt. Renovieren wollte er sowieso, schon im letzten Jahr. Vielleicht helfen ihm nun die Nachbarn. Die aus Rehsen.