Lea-Sophie aus Schwerin wurde fünf. Das ist das Alter, in dem die kleinen Mädchen morgens schon ganz alleine aufstehen, die Zeit, in der sie bunte Bilder für Mama und Papa und Winnie Pooh malen. Das Alter, in dem sie stolz verkünden, dass sie jetzt auch den Purzelbaum können und in dem sie genau wissen, dass sie später mal Prinzessin oder Superstar werden.
Lea-Sophie machte keine Purzelbäume mehr, sie malte keine Bilder und träumte nicht von tollen Abenteuern. Als am 20. November 2007 ein Notarzt zu ihr kam, saß sie bis auf die Knochen abgemagert in ihrem Stühlchen, von Hungerödemen und offenen Wunden gepeinigt, verkrustet vom Schmutz ihrer eigenen Fäkalien. Sie hatte keine Kraft mehr, "Dornröschen war ein schönes Kind" zu singen. Sie war dehydriert, hatte Wahnvorstellungen, konnte kaum mehr erkennen, was um sie herum vorging. Zwei Stunden später war sie tot. Ihre Eltern haben sie verhungern lassen. Jetzt, nach fast vier Verhandlungsmonaten, wurden die beiden am Schweriner Landgericht zu elf Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Wegen Mordes in Tateinheit mit der Misshandlung Schutzbefohlener.
Pech gehabt
Das ist ganz sicher eine gerechte Strafe für die Eltern, ein gerechtes Urteil ist es aber nicht. Denn es hat all diejenigen nicht berücksichtigt, die den grauenvollen Tod des Kindes durch eigenes Tun oder Unterlassen mitzuverantworten haben. Wo bleibt das Urteil gegen die Mitarbeiter des Schweriner Jugendamtes, die schon Monate vorher von den Großeltern des Mädchens gewarnt wurden, dass etwas schief laufe in Lea-Sophies Familie und die dennoch nicht entsprechend handelten? Wo bleibt das Urteil gegen die Nachbarn im fünfgeschossigen Plattenbau, die offenbar nie fragten, warum das Mädchen nicht mehr auf dem Spielplatz zu sehen war? Die angeblich nie ein Schreien, ein Weinen oder Schimpfen aus der Wohnung hörten.
Wo bleibt das Urteil gegen den Schweriner Bürgermeister, der bei einer Pressekonferenz zynisch erklärte: "Es hätte in jeder anderen Stadt passieren können, und der, dem es passiert ist, hat in diesem Fall Pech gehabt." Wo bleibt das Urteil gegen die Politiker, die in Sonntagsreden gern von der Kinderfreundlichkeit Deutschlands sprechen, es aber gleichzeitig zulassen, dass massiv die Finanzen für soziale Projekte und auch Stellen für die Arbeit in Jugend.- und Sozialämtern gestrichen werden, so dass ein Jugendamtsmitarbeiter nach Angaben des Deutschen Kinderschutzbundes inzwischen im Schnitt 150 Fälle bearbeiten muss?
Es reicht kein "Warum"
Denjenigen, die sich jetzt selbstgerecht zurücklehnen und erklären, man könne schließlich nicht die Verantwortung für alles Elend der Welt übernehmen, sei gesagt, es reicht nicht, nach einem Mord, wie dem an Lea-Sophie, Plüschtiere, Kerzen und ein Schild mit der Frage "Warum" abzulegen. Wir alle sind verantwortlich für das Leben der Kinder, die in diesem Moment verprügelt, hungernd, sexuell missbraucht oder einfach vergessen, irgendwo in einer deutschen Stube sitzen.