Natürlich möchte man die Beweise sehen. Francesco Mangiacapra sitzt in Neapels schönstem Belle-Époque-Kaffeehaus Gambrinus und zückt bedeutsam sein Mobiltelefon. Über diesen Mann spricht zurzeit ganz Italien, Mangiacapra hat um die 40 katholische Priester, die in den vergangenen Jahren seine Dienste als schwuler Callboy in Anspruch genommen haben, gegenüber ihrem Arbeitgeber geoutet. Ein 1233 Seiten starkes Dossier ist über die Jahre entstanden, das er nun Crescenzio Kardinal Sepe, dem Erzbischof von Neapel, übermitteln ließ. Der hat inzwischen gegenüber der Tageszeitung "La Repubblica" die Authentizität der Unterlagen bestätigt und von "schwerwiegenden Fällen" gesprochen.
Schnell bereut man den Blick auf Mangiacapras Smartphone. Es sind nicht nur die expliziten Chatverläufe seiner Kunden, sondern auch Fotografien zu sehen, die nackte Priester in eindeutigen Posen zeigen, einer ejakuliert, während im Hintergrund eine Madonnenstatue zu sehen ist. Kein schöner Anblick. Dazu hat der 37-Jährige jeweils Bilder gestellt, auf denen seine zahlenden Sexualpartner bei der heiligen Messe oder in anderen kirchlichen Zusammenhängen zu sehen sind. Inzwischen ist das Konvolut vermutlich beim Vatikan eingetroffen. Man mag es sich kaum vorstellen, was das für die Betroffenen bedeutet.
Herr Mangiacapra, glauben Sie an Gott?
Nein, ich habe mich schon vor zehn Jahren aus dem Taufregister austragen lassen. Als gewollt politischen Akt. Ich kämpfe für sexuelle Selbstbestimmung, aber ich habe nichts gegen Gläubige. Schließlich glaube ich an die Freiheit, und zu den Freiheiten gehört es, religiös sein zu dürfen. Also bin ich kein grundsätzlicher Feind der Kirche.
Das könnten die Priester, die Sie geoutet haben, anders sehen.
Mag sein, aber ich führe keinen Kreuzzug gegen sie als Schwule oder als Priester, sondern gegen ihre Heuchelei. Dieser Teil der Kirche ist faul und falsch.
Sie haben vor sieben Jahren angefangen, Ihre Dienste als schwuler Escort anzubieten. Wann bemerkten Sie, dass sich unter Ihren Kunden Geistliche befinden?
Das passierte nach und nach. Ich bemerkte, dass sie eine Art Netzwerk gebildet hatten, sich untereinander in Chatgroups über ihre beliebtesten Escorts austauschten. Es sind nicht einzelne verirrte Seelen, die ihre sexuelle Not befriedigen, sondern es hat System.
Wo hat das alles stattgefunden, im Vatikan?
Überall in Italien, in Rom, im Süden des Landes, durch die Chatgruppe war ich schnell bekannt und wurde dementsprechend oft gebucht. Ich hatte auch einen geistlichen Kunden aus Bamberg, der mich buchte, wenn er nach Rom kam.

Haben Sie eine Erklärung, was Sie für diese Priester so attraktiv machte?
Nichts Besonderes, ich bin nur derjenige unter den zahllosen Escorts in Italien, die Priester zu ihren Kunden zählen, der sich traut, darüber zu sprechen und sein Gesicht hinzuhalten.
Ein redlicher Kaufmann sind Sie nicht. Diese Männer haben Sie doch auch für Ihre Diskretion bezahlt.
Interessanterweise ist das die erste Frage, die mir meistens gestellt wird. Ich würde normalerweise nie einen Kunden verraten. Wenn ein Mann seine Gattin mit einem Escort betrügt, ist das allein seine Sache, das muss er mit sich und seiner Frau ausmachen. Aber Priester sind Leute, die sich eine moralische Funktion zuschreiben, auf ihren Kanzeln stehen und ein Weltbild predigen, gegen das sie selbst verstoßen.
Wieso denken Sie, dass es Ihnen zukommt, darüber zu richten?
Ich habe auch eine Würde, und ich finde, dass diese Priester sie mit Füßen treten. Ich bin homosexuell und weiß, was es für die LGBT-Community bedeutet, dass unsere Gesellschaft von den Wertvorstellungen der Kirche geprägt ist. Es betrifft mich ganz persönlich, und ich habe jedes Recht der Welt, diese Doppelmoral öffentlich zu machen.
Jeder liebt den Verrat, aber niemand den Verräter.
Mir wird ständig vorgeworfen, erst das Geld dieser Leute genommen zu haben und sie dann zu verraten. Aber was machen sie? Sie werden von der Kirchensteuer bezahlt und gehen dann zu Escorts, was sie anderen verbieten. Erschwerend kommt hinzu, dass Priester eine Berufung ist, kein normaler Beruf. Wer nicht in der Lage ist, kohärent damit zu leben, sollte das nicht ausüben.
Wie sind katholische Priester im Bett? Unterscheiden sich ihre Vorlieben von denen anderer Kunden?
Sie wollen genauso harten Sex haben wie alle anderen. Aber sie sind sentimentaler. Man merkt, dass sie nicht nur Sex käuflich erwerben, sondern auch die emotionale Nähe, Zuneigung. Es gibt aber noch einen ganz anderen grundlegenden Unterschied.
Und der wäre?
Priester kümmern sich komischerweise nicht darum, ob man diskret vorgeht. Sie fühlen sich in ihrer Überlegenheit und Sonderrolle derart sicher, dass sie sich kaum um Privatsphäre bei den Treffen scheren. Verheiratete Männer sind da anders, die haben ständig Angst, entdeckt zu werden. Priester verhalten sich, als könne ihnen keiner etwas anhaben. Und wieso sollten sie nicht? Den meisten, die auffliegen, drohen von der Kirche ohnehin keine Konsequenzen. Es genügt, einen Satz der Reue gegenüber den Vorgesetzten zu äußern, danach geht es munter weiter. Von wegen mea culpa.
Konnten Sie einen Eindruck gewinnen, ob die Männer selbst mit ihrer Doppelmoral hadern?
Bei keinem, sie sind eher der Ansicht, dass ihnen das zusteht. Das hat mich ebenso zornig gemacht, schließlich musste ich mir meine sexuelle Freiheit erkämpfen. Sie nehmen sich das Recht aus einer Überheblichkeit heraus, obwohl sie es bei anderen verdammen.

Das ist doch überraschend, man hat das Klischee des mit sich und seiner unterdrückten Sexualität ringenden Gottesmannes im Kopf, ein bisschen wie in "Dornenvögel". Das haben Sie nie erlebt?
Nicht die Spur, das passiert alles mit einer Selbstverständlichkeit, die einen fassungslos macht.
Nach einem Spaziergang im Eilschritt durch das chaotisch belebte Neapel kommen wir an der Wohnung von Mangiacapra an, wo er fotografiert werden möchte, nachdem die Chefkellnerin dies im Gambrinus nicht erlaubt hatte. Es sieht aus, als hätte eine Kleinstadtbühne für die Aufführung von "La Cage aux Folles" dekoriert. Überall Gold, goldene Matrjoschkapuppen, goldene Putten, sogar ein goldener Dildo steht im Bücheregal. An der 4 Wand sein Juradiplom. Mangiacapra ist kein unsympathischer Mann, vielleicht ein bisschen selbstverliebt, was möglicherweise zur Grundausstattung des Berufs gehört. Natürlich genießt er die Aufmerksamkeit, die um ihn entstanden ist. Und doch glaubt man ihm seine aufklärerischen Motive.
Denken Sie, mit Ihrer Outing-Aktion etwas verändern zu können?
Ich hoffe schon. Für mich selbst brauche ich es nicht mehr zu machen, aber die nächste Generation junger Homosexueller hat es verdient, nicht den gleichen ungerechten Kampf führen zu müssen, bis sie lernt, zu sich zu stehen. Vielleicht ändert es das Bild unserer Gesellschaft von Homosexuellen, wenn man einmal sieht, wer die Leute sind, die dieses Bild geschaffen haben. Vielleicht tue ich auch dem einen oder anderen Priester einen Gefallen.
Das müssen Sie erklären.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einem in dieser Falschheit gut geht. Vielleicht befreie ich sie von ihrer Doppelmoral.
Kommen wir zum Logistischen. Wie läuft so ein Date im Vatikan ab? Marschieren da die Callboys an der Schweizergarde vorbei?
Die Begegnungen laufen immer außerhalb des Vatikans ab, es gibt bestimmte Wohnungen dafür. Sie kommen auch nie im Talar, sondern bürgerlich gekleidet. Es gibt aber auch Ausnahmen, ich wurde einmal vom Chef eines Ordens bestellt – er leitet eine Einrichtung, wo man sich um Drogenkranke kümmert –, da ging ich ganz normal zum Empfang und meldete mich an. Der saß mit anderen Priestern am Tisch und stellte mich als Freund vor. Er ist aber heute nicht mehr im Amt, er hat wegen Steuerbetrugs Hausarrest. Ich habe den Eindruck, dass dieses Allmachtsgefühl vieler Priester ein grundsätzliches Problem geworden ist.
Haben Sie versucht, mit den Priestern darüber zu sprechen, sie zur Rede gestellt?
Ja natürlich, aber das war sinnlos. Die sagen dann Dinge wie, mach dir keine Sorgen, Jesus weiß, wie sehr ich ihn liebe. Ehrlich gesagt ist mir das ziemlich egal, welche Auswirkungen das auf deren Verhältnis zu Jesus hat, mir geht es um die Auswirkungen im sozialen Bereich. Ich weiß schon, das klingt immer etwas seltsam, wenn ein Prostituierter sich als sozialer Vorkämpfer präsentiert, aber das ist meine Motivation.
Wie waren die Reaktionen, als Sie Ihre geistlichen Kunden der Öffentlichkeit preisgegeben haben?
Das ist wichtig: Ich habe die Namen und die Beweise nur der Kirche übergeben. Zuvor hatte ich in einem Buch "Die Nummer eins – Bekenntnisse eines Callboys" über die Hintergründe berichtet. Die Priester selbst und deren enger Kreis konnten erkennen, um wen es sich handelt. Ich dachte, dass dadurch etwas in Gang kommt, aber keine Spur davon. Sie taten, als wäre nichts passiert. Deshalb das Dossier. Die Version für die Presse enthält auch nur geschwärzte Namen. Die Presse war skeptisch, bis dann die Kirche bestätigte, dass wohl alles echt sei. Die Belege sind auch recht eindeutig.
In der Tat. Steht da wirklich eine Madonnenfigur im Hintergrund, während sich der Mann vor dem Computer selbst befriedigt?
Ja, wie ich sagte, es besteht keinerlei Unrechtsbewusstsein. Ich habe deshalb zu jeder der eindeutigen Fotografien die Vergleichsbilder gesammelt, dazu auch andere Dinge, Überweisungsbestätigungen für Bezahlungen von Escorts, unmissverständliche Chatverläufe bei Dating-Plattformen wie Grindr. Es musste hieb- und stichfest sein.
Sie haben das Konvolut dem Erzbischof von Neapel übergeben. Wie bekommt man als Escort bei einem hochrangigen Geistlichen so flott einen Termin?
Ich habe das einem Bekannten übergeben, der dort arbeitet. Aber es gibt eine Vorgeschichte, durch die mich der Bischof namentlich bereits kannte. Ich habe schon einmal einen Priester, der mein Kunde war, angezeigt, weil er öffentliche Gelder veruntreut und sich dafür eine luxuriöse Reisen geleistet hatte.
Sie sind eine ganz schöne Petze.
Der Mann war kriminell, gegen ihn läuft ein Prozess, er wurde bereits zurückversetzt in den Laienstand. Aber es gibt einen anderen Hintergrund, weshalb ich das damals gemacht habe: Dieser Priester hat sich als einflussreicher Politiker ausgegeben und junge Männer zum Sex verleitet, indem er ihnen Arbeit versprach. Auch das ist gerichtsbekannt. Der Bischof jedenfalls wusste aus diesem Fall, wer ich bin. Daher habe ich, so seltsam es klingen mag, bei der Kirche eine gewisse Glaubwürdigkeit.Unnützes Wissen Papst
Wie brisant ist es für Sie, diese Daten weitergegeben zu haben? Sie bedrohen damit die Lebensgrundlage einiger Menschen.
Als das Buch mit den anonymen Szenen erschienen war, meldete sich ein alter Kunde, ein italienischer Priester, der gar nicht vorkam, da ich zu wenige Beweise hatte. Als der mir eine stattliche Summe anbot, ihn rauszulassen, wurde mir das erst richtig bewusst. Als das Dossier beim Bischof lag, hat sich der Inhalt offenbar in Windeseile durch die Diözesen verbreitet. Ein Bischof soll gesagt haben: "Ach, nur zwei betroffene Priester in meinem Einflussbereich, dann ist es ja nicht schlimm." Als wäre es nicht das Problem der ganzen Kirche. Das zeigt, wie die Mentalität hier gelagert ist.
Gab es Drohungen?
Natürlich, aber auf ganz eigenartige Weise. Ich habe anonym Bibelzitate zugeschickt bekommen, da stecken die Drohungen drin. Aber natürlich nur zwischen den Zeilen. Es ist keine zielführende Idee, mir zu drohen, das spornt mich an, weiterzumachen. Und mir ist bewusst, dass ich ziemlich hart zugeschlagen habe, wie ein Attentäter an mehreren Orten gleichzeitig. Ich war auch erbarmungslos.
Was machen Sie jetzt beruflich? Für Ihre bisherige Profession dürften sich die Enthüllungen als geschäftsschädigend erweisen.
Tatsächlich gibt es enorme Einbußen, meine Kunden trauen mir nicht mehr so ganz. Alles hat eben seinen Preis im Leben. Ich habe Jura studiert und festgestellt, dass ich als Escort in 20 Minuten so viel verdiene wie als Referendar einer Anwaltskanzlei in einem Monat. Ich hatte eine gute Zeit, habe viel verdient, jetzt kommt etwas anderes. Ich bin übrigens finanziell nicht völlig abgesichert. Ich habe ein bisschen investiert, aber das war's. Es macht mich stolz auf mich selbst, dass ich es dennoch getan habe.
Papst Franziskus ist der erste Papst, der auf die Homosexuellen zuging. Er sagte: "Wer bin ich, dass ich über sie richte." Ist das nicht ein merkwürdiger Zeitpunkt, die Kirche so anzugreifen?
Dann hören Sie bitte genau hin: Er richtet nicht über Homosexuelle – solange sie keinen Sex haben. Nein danke, das ist kein Fortschritt. Aber ich habe Respekt vor Franziskus; ich finde, wir haben einiges gemein.
Und das wäre genau was?
Er versteht es, sich ausgezeichnet zu verkaufen. Natürlich in einem völlig anderen Sinne als ich. Aber glauben Sie mir, als Profi kann ich das beurteilen.
