Kolumne Winnemuth Wir müssen unsere Moral trainieren - so schaffen wir das

Hätte, könnte, sollte – alles Mist. Warum tun wir nicht einfach, was wir tun sollten? Das ist gar nicht so schwer. Man muss es nur trainieren.

Drei Situationen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Eigentlich.

Die erste: Ich fahre eine Landstraße entlang, hinter einer Kurve plötzlich mehrere Autos mit geöffneten Türen. Ein Wagen hängt halb im Graben, Leute stehen drum rum, ganz offensichtlich ein Unfall, der glimpflich ausgegangen zu sein scheint. Ich kurve in letzter Minute um die Autos herum und freue mich einen Kilometer lang darüber, nicht in die Kolonne gekachelt zu sein. Puh! Was hätte passieren können! Die nächsten 30 Kilometer ärgere ich mich über mich selbst. Nee: Was hätte passieren müssen, das war hier die Frage. Hätte ich nicht anhalten, aussteigen, nach dem Rechten sehen, Hilfe anbieten müssen? Auch wenn da schon genügend Helfer gewesen sind? Zu spät, Gelegenheit vorbei, nicht richtig reagiert.

Helfen oder nicht helfen, das sollte nicht die Frage sein

Zweite Situation: Ich bin gegen Mitternacht in meinem Viertel unterwegs, Hauptbahnhof- und Rotlichtgegend. Ein ausgesucht höflicher und bezaubernd altmodisch mit schwarzem Anzug, Hut und Fliege gekleideter, wenn auch komplett betrunkener Mann fragt nach einer einschlägigen Stricherbar. Ich gehe mit dem Hund ohnehin in die Richtung und nehme ihn mit. Wir plaudern.

undefined

Meike Winnemuth

Die Bestsellerautorin ("Das große Los") schreibt wöchentlich im stern. Und freut sich auf Sie. Was bewegt Sie gerade? Tauschen Sie sich mit unserer Kolumnistin aus: 
facebook.com/winnemuth

Er erzählt eine komplizierte Geschichte von einem Freund und einem verlorenen Schlüssel und dass er nicht in seine Wohnung komme und jetzt halt in der Bar übernachte. Ich habe ein mulmiges Gefühl: In seinem Zustand ist er ein allzu leichtes Opfer. Sollte ich ihn nicht seinen Rausch auf meinem Sofa ausschlafen lassen? Etwas Harmloseres als diesen zarten Typen kann man sich nicht vorstellen, ich könnte ihn mit einem Fingerschnipsen umhauen. Wir stehen vor der Bar. Ich frage, ob wirklich alles okay ist. Ich erwähne mein Sofa mit keinem Wort und gehe heim. In dieser Nacht schlafe ich schlecht.

Ich hätte sollen: Das ist ein Satz mit Widerhaken. In beiden Fällen hätte ich etwas tun sollen und habe es nicht getan. Es war unterlassene Hilfeleistung, selbst wenn es gute Gründe für das Unterlassen gegeben haben mag. Mir war völlig klar, was das Richtige gewesen wäre – doch im ersten Fall viel zu spät, im zweiten ohne Konsequenzen. Hätte sollen, gewesen wäre, eigentlich: Das ist alles Mist, das will ich nicht mehr in meinem Leben haben, diese Rückspiegel-Moral ohne Mut. Ich weiß es doch besser. Warum mache ich es also nicht besser? Theoretisch sind wir alle die größten Moralisten. Aber praktisch?

Das mache ich. Jetzt. Sofort.

Dritte Situation, heute Mittag. In einem Supermarkt zahle ich 50,78 Euro mit einem Fünfziger und einem Fünfer, die Kassiererin gibt mir fälschlich auf 70 Euro heraus, ich merke es erst vor der Tür, als ich das gedankenlos entgegengenommene Wechselgeld in die Hosentasche stopfen will. Was jetzt? Sich klammheimlich freuen und weitergehen? Glück für mich, Pech für den Supermarkt? Ich hole tief Luft, drehe um und gehe zur Kasse zurück. "Entschuldigung, Sie haben mir versehentlich…" Ohne die beiden Erlebnisse zuvor hätte ich es wahrscheinlich nicht getan, wer weiß.

Ich glaube, man muss moralische Reflexe trainieren wie Muskeln. Mit kleinen Gewichten anfangen, dann steigern. Die meisten von uns sind völlig aus der Form, jahrzehntelang hat man an anderen Baustellen gearbeitet, dem Körper, der Seele, der Karriere, der Beziehung. Erste Übung im Moral-Workout: die Verbannung des Konjunktivs. Nicht: Man sollte. Nicht: Man hätte sollen. Sondern: Das mache ich. Jetzt. Sofort. Indikativ, Gegenwart – das Einzige, worauf es ankommt.

Beim Rausgehen aus dem Supermarkt höre ich einen anderen Kunden, der die Situation beobachtet hat, "schön dumm" murmeln. Mag sein. Aber ich fühle meine Muckis wachsen.

PRODUKTE & TIPPS