Expertin weiß Rat Psychologin: "Die Menschen sind heute gestresster als jemals zuvor"

Stress Illustration
Evolutionär ist Stress eine Reaktion auf eine gefährliche Situation. In der modernen Gesellschaft jedoch leiden viele Menschen unter Dauerstress
Psychologin Veronika Engert erforscht Stress. Sie weiß, was uns besonders zu schaffen macht und wie man diesem Hamsterrad aus Verpflichtungen und Ansprüchen wieder entkommt. 

Frau Engert, seit Jahren erforschen Sie den Stress. Sind Sie dadurch besonders gut darin geworden, ihn bei sich selbst zu vermeiden?
Nein, leider gehöre ich auch zu den Menschen, die meistens zu viel machen. 

Schaut man in der Menschheitsgeschichte zurück, dann waren stressige Situationen oft eine Frage von Leben und Tod: Der Bär, der einen angriff oder das Mammut. Müsste es uns daran gemessen nicht eigentlich ziemlich gut gehen? 
Heute sorgen tatsächlich andere Dinge für die Stressbelastung. Da stürzt der Computer ab, obwohl man einen Text fertig stellen muss, die Kita ruft an, weil das Kind krank ist oder der Bahnstreik verhindert, dass man zu seinem Vortrag kommt. All das sind keine lebensbedrohlichen Ereignisse. Nur leider ist die Reaktion unseres Körpers darauf grundsätzlich die Gleiche: Der Körper stellt sich mit all seinen Systemen darauf ein, bei der eigenen Rettung Höchstleistungen zu vollbringen. 

Psychologin Veronika Engert vor einem Gebäude und Schilf
Veronika Engert ist stellvertretende Institutsdirektorin und Professorin für soziale Neurowissenschaften am Institut für Psychosoziale Medizin, Psychotherapie und Psychoonkologie an der Universität Jena
© privat

Der Angriff auf unsere Vorfahren war allerdings meist recht schnell beendet.
Das stimmt, eine gesunde Stressreaktion dauert auch nur ein paar Stunden – die heutigen Stressoren begleiten uns aber oft sehr viel länger. Und was besonders fatal ist: Sie addieren sich. Viele kleine Dinge, die wir tagtäglich erleben, können uns so sehr stressen, dass wir am Ende davon krank werden. 

Viele Menschen haben den Eindruck, dass ihnen alles zu viel wird. Was ist es, was uns so derart zusetzt?
Am meisten stresst es uns, wenn wir etwas als schwer kontrollierbar und unvorhersehbar empfinden, wenn sich ein Gefühl der Überforderung einstellt und unser Selbstbild in irgendeiner Weise bedroht ist. Viele Menschen kommen gar nicht so richtig an in ihrem eigenen Leben, weil sie ständig damit beschäftigt sind, schneller, besser und schöner zu werden.

Aber genau das scheint die Leistungsgesellschaft zu fordern. Die Zeiten, in denen man wirklich mal durchatmen kann und zur Ruhe kommt, sind zur Ausnahme geworden. Was bedeutet das für ein Stresssystem, dass eigentlich auf Sprint ausgerichtet ist und nicht auf Langstrecke? 
Auf Dauer führt das zu einer chronischen Stressbelastung, weil wir das Stresssystem ständig auf niedriger Flamme am Köcheln halten. Das sieht man zum Beispiel am Cortisol. Morgens sollte der Spiegel des Hormons sehr hoch sein. So bereitet es uns auf das vor, was der Tag an Anforderungen mit sich bringt. Über den Tag hinweg geht der Cortisolspiegel dann nach unten. Nachts ist er eigentlich auf dem niedrigsten Level, damit man besser schläft. Weil das hohe Cortisol das Immunsystem hemmt, starten in diesen Stunden auch viele immunologische Reparaturprozesse. Bei einem dauerhaft erhöhten Stresslevel aber flacht die Kurve ab bis eine fast gerade – aber insgesamt eben erhöhte – Linie entsteht. Die Folge: Der Schlaf ist nicht mehr erholsam, man kommt morgens nicht in Schwung, das Immunsystem ist gestört, viele Stoffwechselprozesse laufen nicht mehr rund.

Wie lange hält man so etwas aus? 
Mit Stress im Beruf kommen wir häufig eine ganze Weile klar, zumindest, wenn man es schafft, sich zwischendurch zu erholen – am Abend abzuschalten, am Wochenende oder beim Spielen mit den Kindern aufzutanken. Gefährlich wird es, wenn diese Inseln untergehen, wenn man sich in seiner Freizeit um die kranken Eltern kümmern muss, wenn die Beziehung zum Partner krankt oder man sich selbst ständig in Frage stellt.

Gibt es ein maximales Stresslevel, dass man nicht überschreiten sollte? 
Man kann sich das aushaltbare Maß an Stress vorstellen, wie ein Fass. Wenn es voll ist, läuft es über – allerdings ist die individuelle Belastbarkeit sehr unterschiedlich ausgeprägt. Ein Problem, das wir häufig jedoch nicht bedenken ist, dass nicht nur unser eigener Stress in dem Fass landet. Wir wissen mittlerweile, dass auch andere uns mit ihrem Stress beeinflussen können. 

Stress ist ansteckend?
Ja, das ist er tatsächlich. Wenn wir unsere Probanden mit unangenehmen Prüfungs- oder Bewerbungssituationen bewusst stressen und Menschen dabei durch die Glasscheibe oder auf dem Bildschirm zuschauen lassen, reagieren auch sie gestresst. Je näher man sich dem Beobachteten fühlt, um so stärker ist die Reaktion. Wenn zum Beispiel Kinder sehen, dass ihre Eltern gestresst sind, beeinträchtigt das auch ihre eigene kognitive Funktion und Leistungsfähigkeit.

Was bedeutet das in einer Zeit, in der wir jeden Tag in den Nachrichten und sozialen Medien das Leid der anderen sehen? 
Wir müssen uns bewusst machen, dass es Dinge gibt, die uns belasten, auch wenn sie uns nicht selbst passieren. Viele glauben, all diese Krisen um uns herum würden sie in ihrem Inneren nicht beeinflussen, aber das tun sie eben doch. Deswegen glaube ich tatsächlich, dass die Menschen heute gestresster sind, als sie es jemals waren.

Wie kann man sich davor schützen?
Indem man sich bewusst distanziert und dieses ganze Leid nicht unmittelbar aufnimmt. Langfristig sollte man sich Erholungsinseln schaffen, sich zum Beispiel verbieten, die Nachrichten mehrmals täglich zu verfolgen und einfach mal nichts erledigen, bewusst und in Ruhe seinen Tee trinken oder einen Spaziergang zu machen.

Manchmal ist es gar nicht möglich, diesen Abstand einzuhalten. Gibt es noch andere Strategien, um sich zu schützen? Was weiß die Forschung darüber? 
Eine ganz wichtige Fähigkeit und eine, die man auch trainieren kann, ist Mitgefühl. Und damit meine ich kein Mitleid. Denn das führt dazu, dass man sich ebenfalls schlecht fühlt. Mitgefühl geht darüber hinaus. Es generiert den Wunsch, dass es dem anderen und auch einem selbst besser gehen soll. Nach einem dreimonatigen Training für Mitgefühl konnten wir in unserer Arbeitsgruppe zeigen, dass die akute und langfristige Stressbelastung unserer Teilnehmer deutliche reduziert war. 

Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?
Wahrscheinlich liegt es daran, dass diese Menschen auch mehr Verständnis für sich selbst entwickeln und sich selbst besser verzeihen können, wenn sie einen Fehler machen. Wir wissen zudem, dass es hilfreich ist, möglichst objektiv auf eine Situation zu schauen und schwierige oder ungute Gedanken und Gefühle zu relativieren. Dazu gehört auch, sich bewusst zu machen, dass ein schlechtes Gefühl erstens keine prinzipielle Wahrheit darstellen muss und zweitens auch wieder vergehen kann. 

Das Versprechen der Moderne lautet: Wer hart arbeitet, hat Erfolg. Und so blicken wir oft neidisch auf die Menschen, die um fünf Uhr aufstehen, weil sie so ein noch größeres Arbeitspensum bewältigen können. Abzuschalten ist bei vielen nicht vorgesehen. 
Das stimmt, dazu kommt, dass uns eine gewisse Belastung anfangs sogar Spaß machen oder aktivieren kann. Vielleicht fühlt man sich auch gewertschätzt, weil einem mehr Verantwortung übertragen wurde. Hört der Stress aber nicht mehr auf und hat man das Gefühl die Kontrolle zu verlieren oder nicht mehr auftanken zu können, sollte man etwas tun. 

Welche Warnsymptome gilt es wahrzunehmen?
Ein guter Anhaltspunkt ist der Schlaf. Wenn man merkt, dass man nicht einschlafen kann, nicht durchschläft oder früh aufwacht, obwohl man noch müde ist. Das ist ein gutes Zeichen dafür, dass gerade etwas aus den Fugen gerät. 

Der Burnout und durch Stress verursachte Krankheiten galten lange als Männerleiden. Ist da etwas dran?
Als man noch das deutsche Hausfrauenmodell lebte, waren es häufiger die vielarbeitenden Männer, die so gestresst waren, dass sie einen Burn-out oder Herz- Kreislaufprobleme bekamen. Ich kann mir jedoch sehr gut vorstellen, dass sich das gerade verändert.

Frauen wissen jetzt und sehen immer mehr, was sie alles haben können – ein erfolgreiches Berufsleben, eine Familie, vielleicht nicht nur ein Kind, sondern zwei oder drei. Aber jedes Kind kostet eine Frau allein durch Schwangerschaft und Geburt sehr viel Kraft und Energie. Und auch danach investieren Frauen neben ihrer Berufstätigkeit oft noch sehr viel mehr Zeit in die Betreuung und Erziehung der Kinder als Männer. Die Belastung dieser Frauen ist heute wahrscheinlich oft größer als die vieler Männer.

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