Kraftlos, ruhelos, ausgelaugt Jürgen Klopp hat die Reißleine gezogen, bevor die Belastung zu viel wurde. So schützen auch Sie sich

Collage zeigt ein Schwarz-Weiß-Bild von Jürgen Klopp, einem Mann mit Kappe und Pulli
"Mir geht die Energie aus", sagte Fußballtrainer Jürgen Klopp in einer emotionalen Nachricht. Ein Satz wie ein Spiegel unserer Gesellschaft
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Wie Jürgen Klopp fühlen sich viele Deutsche: ausgelaugt. Wie Sie Alarmzeichen im Alltag erkennen und wieder zu sich finden. 

Sein Gesicht ist matt angeleuchtet, der Pullover grau wie der Himmel hinter dem Fensterglas. Jürgen Klopp, Trainer des FC Liverpool, sitzt auf einem Stuhl. Die Schultern hängen, Schatten unter den Augen. Einzig der Rasen des Trainingsgeländes ist grün wie die Hoffnung. Klopp aber will gehen, tatsächlich gehen. Zum Saisonende verlässt er nach mehr als acht Jahren vorzeitig einen Klub, an dem er alles absolut liebe, so sagt er das in diesem Vereinsvideo von Ende Januar. Es ist eine emotionale Nachricht, der 56-Jährige macht immer wieder Pausen zwischen den Sätzen, holt Luft und sagt schließlich: "Mir geht die Energie aus."

Ein Satz wie ein Spiegel unserer Gesellschaft. Klopp, das Idol: ein müder Mann. Es ist, als spreche mal jemand aus, wie wir uns fühlen. Ausgelaugt, kraftlos, leer und müde. Als hätte Klopp eine Last abgelegt, die wir alle mit uns schleppen.

Er ist nicht der erste Prominente aus der Welt des Leistungssports, der sie benennt. Ralf Rangnick war 53 Jahre alt und Trainer auf Schalke, als er ausrichten ließ, er leide an einem Erschöpfungssyndrom. Seine Speicher, so sagte es der Schalker Vereinsarzt 2011 über Rangnick, seien leer. Ausgepowert fühlte sich auch Oliver Kahn, der einige Jahre nach seinem Karriereende von einem Tunnel sprach, in den ihn seine Verbissenheit getrieben habe: "Ich habe immer ein Symptom gespürt, dieses Ausgebranntsein, es hat alles enorm viel Kraft gekostet." 2022 wandte sich der damalige Sportdirektor von Borussia Mönchengladbach Max Eberl an die Öffentlichkeit. Er sagte unter Tränen: "Ich muss raus, ich muss auf den Menschen aufpassen." Und jetzt ist es Jürgen Klopp, der mal raus muss, Mensch.

Eine Gesellschaft, in der Erschöpfung schlicht dazugehört 

Sicher ist die Welt des Spitzensports eine eigene. Top-Trainer und Torwartlegenden haben andere Möglichkeiten als wir, auf ihre Erschöpfung zu reagieren. Aber auch sie sind Menschen unserer Zeit. Sie leben in einer Gesellschaft, in der Erschöpfung schlicht dazugehört – und manchmal sogar schmückt. Wer erschöpft ist, hat immerhin alles gegeben. Der wurde gebraucht.

Eine Illustration eines halb geöffneten Fensters
Hundert Tage Regenwetter und wie es enden kann: Die Illustrationen zu dieser Titelgeschichte stammen von Till Christ und Anne Kathrin Schuhmann vom Berliner Studio Pong
© Studio Pong

Ermattung ist Alltag, Grundgefühl eines Lebens, in dem wir alles gerade eben so schaffen oder gerade eben auch nicht. Dieses Gefühl beschreibt eine Gegenwart, in der mehr und mehr von uns ausfallen, weil ihre Ressourcen aufgebraucht sind. Das belegen die Zahlen der AOK. Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen wie Erschöpfungszuständen, Belastungsstörungen, Depression und Angsterkrankungen haben deutlich zugenommen.

Zwar können Ärztinnen und Ärzte niemanden nur wegen "Burnout" krankschreiben, doch gibt es in der Diagnose-Klassifikation ICD-10, nach dem Krankheiten verschlüsselt werden, dafür eine eigene Zusatz-Ziffer. Und hier zeigt sich, dass sich die Zahl der erschöpfungsbedingten Arbeitsunfähigkeitstage im Laufe der vergangenen zehn Jahre fast verdoppelt hat: von knapp 88 auf 160 Tage je 1000 Versicherte und Jahr. Frauen sind dabei fast doppelt so lange krankgeschrieben wie Männer. Häufig betroffen sind Angestellte, die im Beruf viel mit Menschen zu tun haben: zum Beispiel Pflegekräfte, vor allem solche in Führungsverantwortung oder Kundendienstmitarbeitende im Dialogmarketing, sowie Berufe in der Heilerziehungspflege und Sonderpädagogik.

Warum fehlt uns diese Kraft?

Den Erkrankungen gehen meist Warnsignale voraus, die wir übersehen oder ignorieren. Als wären wir an den Zermürbungsprozess gewöhnt. Als fiele uns nur in Ausnahmesituationen ein, wie sich ein gutes Leben anfühlte – oder anfühlen könnte.

Erschienen in stern 07/24

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