Frau Tschöpe-Scheffler, Millionen von Mütern und auch ein paar Väter schauen jede Woche im Fernsehen "Super Nanny". Wie finden Sie die Sendung?
Schlecht. Diese Ratz-Fatz-Erziehung, bei der innerhalb von zwei Wochen alles anders ist, funktioniert doch nicht langfristig. Schon gar nicht bei mehrfach belasteten Familien, wie sie dort gezeigt werden. Da gibt es nicht nur ein oder zwei Probleme, sondern viele. Sie bräuchten längere therapeutische Begleitung und nicht nur 14 Tage Besuch von der Super Nanny. Vor allem: Ich kann nicht im Beisein des Kindes die Eltern korrigieren. Das nimmt den Eltern Erziehungsautorität. Und Regeln sollten mit allen Familienmitgliedern, also Eltern und Kindern erarbeitet werden und nicht dirigistisch durch eine Expertin von außen verhängt werden.
Für Väter und Mütter gibt es nicht nur die Doku-Soap "Super Nanny" , sondern inzwischen auch Erziehungskurse. Für wen sind sie geeignet und wann reichen sie nicht aus?
Zur Prävention oder bei einer aktuellen Entwicklungskrise können sie hilfreich sein. Wenn aber auch noch Armut, Partnerschaftsprobleme, eine schlechte Wohnsituation dazukommen, dann sind diese Elternkurse in der Regel nicht in der Lage, das aufzufangen. Am besten wäre es, wenn schon alle werdenden Eltern einen solchen Kurs besuchten. Und dann noch mindestens drei weitere: nach dem ersten Lebensjahr, wenn das Kind eingeschult wird und wenn es in die Pubertät kommt.
Teils wird über Eltern geklagt, die unfähig zur Erziehung sind, teils über kleine Tyrannen in Oshkosh-Hosen gejammert, die Eltern die Hölle auf Erde bereiten. Wer ist das Problem: die Eltern oder die Kinder?
Eltern müssen lernen, dass zum Erziehen Qualitäten gehören: Zeit, Zuhören, Wahrnehmen, langer Atem, Humor und Gelassenheit.
Warum sind viele Eltern heute ratlos, wenn es um die Erziehung ihrer Kinder geht?
Wer erziehen will, muss entscheiden. Das ist in unserer Alles-geht-Gesellschaft antrengend. Aufgrund der vielen Wahlmöglichkeiten - sowohl bei Alltagsdingen als auch bei den großen Lebensfragen - stecken wir in dem Dilemma, uns ständig für und zugleich gegen vieles andere entscheiden zu müssen. Dafür müssen Informationen eingeholt, Zusammenhänge erkannt und Folgen eingeschätzt werden. "Freiheit ist riskant geworden", sagt der Soziologe Ulrich Beck treffend. Viele überfordert diese Freiheit schlichtweg. Und: Viele Eltern haben das verloren, was ich intuitive Erziehungskraft nenne.
Warum fehlt Vätern und Müttern diese Intuition?
In Dutzenden von Büchern wird Eltern erzählt, wie sie ihre Kinder richtig erziehen, was sie bei welchem Problem tun sollen. Und wenn sie mehrere Ratgeber zu einem Thema lesen, bekommen sie oft vier oder fünf unterschiedliche, zum Teil gegensätzliche Rezepte. Das verunsichert. Mütter und Väter müssen darin bestärkt werden, dass sie selbst kompetent sind. Dann können sie auch, wenn es denn ein Buch zusätzlich sein soll, das für ihre Situation und ihr Kind passende aussuchen und ihren eigenen, individuellen Weg in der Erziehung gehen.
Manche Eltern sind nicht nur unsicher, sondern schlichtweg überfordert .....
Überforderung hat sehr oft mit anderen Ursachen zu tun. Es gibt zum Beispiel nachweislich einen Zusammenhang zwischen Armut und Überforderung in der Erziehung. Eine alleinerziehende Mutter mit vier Kindern, die abhängig ist von Sozialhilfe, ist meist sowieso gestresst. Aber auch Partnerschaftsprobleme in gutsituierten Akademikerhaushalten können zur Überforderung führen. Die Probleme ziehen sich durch alle Schichten.
Was sind die Folgen dieser Überforderung?
Leider oft Gewalt. Wenn Eltern sich überfordert fühlen, liegen physische und psychische Gewalt sehr nahe. Dann rutscht ihnen die Hand aus. Oder sie erniedrigen, verspotten, beschimpfen ihr Kind oder drohen im massiv. Immer mehr Eltern verabschieden sich auch komplett aus der Erziehung, und tun so, als ginge sie alles nichts mehr an. Das ist ebenfalls fatal. Denn Kinder brauchen Reibung für ihre eigene Identitätsfindung. Auch in der Pubertät müssen Väter und Mütter noch Grenzen setzen, was anstrengend ist, was nervt.
Nicht nur Eltern prügeln ihre Kinder. Wie kann es geschehen, dass Dreijährige ihre Mütter treten und schlagen?
Kinder, die sich immer weniger zugehörig fühlen, suchen nach Wegen, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Eltern sollen merken: Ich bin auch noch da! Das kann zu aggressivem Körperkontakt führen, um deutlich zu machen: Ich will dazu gehören, und wenn Du mich nicht wahrnimmst, dann tue ich etwas, damit Du mich wahrnehmen musst.
Was macht Elternkompetenz aus?
Für die Eckpfeiler einer guten Erziehung halte ich: Liebe, Achtung, Kooperation, klare Strukturen und Förderung (s. Grafik). Dem Alltag Struktur geben zum Beispiel Rituale, etwa durch die Gute-Nacht-Geschichte oder das gemeinsame Abendessen. Das ist längst nicht mehr selbstverständlich in allen Familien. Dabei sind Regeln, die von allen eingehalten werden müssen, unerlässlich zur Orientierung.
Welches sind Kardinalfehler in der Erziehung?
Ein Kardinalfehler wäre, einen dieser fünf Eckpunkte zentral in den Mittelpunkt zu stellen. Wenn Eltern zum Beispiel in der Erziehung vor allem auf Strukturen setzen, darüber aber vergessen, dass sie ihre Kinder ihrem Alter und ihrer Entwicklung entsprechend an Entscheidungen beteiligen sollten. Für verheerend halte ich auch eine andere Entwicklung: Heute haben wir es immer öfter mit Familien zu tun, in denen alle infantil sind, auch die Eltern. Wenigstens einer sollte erwachsen sein, Verantwortung übernehmen und Erziehungsautorität haben. Dem Kind muss klar sein: Die Eltern sind was anderes als ich.
Wie setzt man Grenzen richtig?
Klar und deutlich - in Mimik, Gestik, Haltung und Wortwahl. Mutter oder Vater müssen sich vorher überlegt haben: Was ist meine eigene Rot-Gelb-Grün-Zone? Was ist mir so wichtig, dass darüber nicht mehr diskutiert wird? Das ist rot. Und das heißt nein. Punkt. Worüber können wir noch miteinander verhandeln? Das ist die Gelbzone. Dann gibt es Grünbereiche. Das heißt, es ist mir nicht so wichtig. Es ist mir vielleicht nicht wichtig, wann das Kind ins Bett geht, Frau Müller ist es aber wichtig. Dann ist das für mich eine Grünzone, für Frau Müller aber eine Rotzone. Acht Uhr ist Schluß. Das muss Frau Müller vorher mit ihrem Partner abstimmen. Nur dann können Grenzen den Kindern auch klar und deutlich vermittelt werden.
Viele Eltern machen aber den Eindruck, als dümpelten sie unentschlossen in der Orange-Zone...
Stimmt leider. Eltern denken heute zwar wieder über Grenzen nach, trauen sich aber oft nicht, die Rotzone zu markieren und zu sagen: Kind, hier ist Schluss, Ende. Sie glauben immer noch, Grenzsetzung und Liebe ließen sich nicht miteinander vereinbaren. Und genau das ist der große Irrtum: Wenn ich mein Kind liebe, dann setze ich auch Grenzen. Denn damit gebe ich ihm Orientierung.
Wenn strafen - wie strafen?
Es müssen logische Konsequenzen sein. Man kann vieles in einer Familienkonferenz besprechen, auch präventiv miteinander überlegen: Wenn das oder jenes passiert, was ist dann? Verstößt das Kind dann tatsächlich gegen die Abmachung, müssen die Eltern dann auch entsprechend handeln und durchhalten.
Eltern, die wenig Zeit für ihre Kinder haben, besänftigen ihr schlechtes Gewissen oft mit i-Pods, Markenklamotten und reichlich Taschengeld ........
Ja, es gibt auch eine Wohlstandsverwahrlosung: Das bedeutet unter anderem wenig gemeinsame Zeit, keine gemeinsamen Rituale. Jeder hat Fernseher und Computer in seinem Zimmer, das Abendessen findet so statt, dass jeder sich mit seinem Mikrowellengericht in sein Zimmer verzieht und fern sieht. Das ist seelische Verwahrlosung. Und die passiert viel häufiger, als wir ahnen, weil sie hinter verschlossenen Türen im gepflegten Reiheneckhaus stattfindet, wo sie keiner vermutet. Und keiner merkt so schnell etwas, denn das Kind trägt ja Nike-Schuhe und fährt ein teures Mountainbike.