Als der Unterwasserarchäologe Harald Lübke vor wenigen Tagen in den Breetzer Bodden vor der Insel Rügen abtauchte, traute er seinen Augen kaum. Knapp zwei Meter unter der Wasseroberfläche zwischen Steinen und Seegras lagen steinzeitliche Kernbeile und Pfeilspitzen auf dem Boden. Bereits beim zweiten Tauchgang fand er eine Geweihaxt - ihr Alter rund 6500 bis 7000 Jahre. "Man brauchte nur hineingreifen", schwärmte Lübke von den Gegebenheiten auf dem Meeresgrund.
Vor einem Jahr hatte die Tauchcrew um Lübke vom Landesamt für Bodendenkmalpflege eine sensationelle Entdeckung gemacht: Innerhalb von vier Wochen stießen die Forschungstaucher im Breetzer, Breeger und Großen Jasmunder Bodden auf 14 bisher unbekannte steinzeitliche Siedlungsplätze aus der so genannten Erteboelle-Kultur. Ein Jahr später, Anfang Mai 2004, tauchten die Archäologen erneut in die Boddengewässer hinab.
"Erwartungen weit übertroffen"
"Unsere Erwartungen wurden weit übertroffen", sagte Lübke. Auf einer nur vier Quadratmeter großen Fläche fanden die Forscher neben Steinwerkzeugen auch erste organische Zeugnisse: Bearbeitete Geweihäxte vom Rothirsch und rund 25 Zentimeter lange Knochendolche. Die Steinzeit-Küstenbewohner hatten die Dolche aus den Langknochen von Auerochsen gefertigt. Zudem fanden sie den Pfosten eines Fischzauns aus Haselholz sowie unzählige Fischreste, wie Knorpel, Schuppen und Gräten. "Die Kulturschichten sind hervorragend erhalten", stellte Lübke fest.
Die Erteboelle-Kultur
Die steinzeitliche Erteboelle-Kultur war in Nordeuropa in der Zeit von 5400 bis 4100 vor Christus verbreitet. Sie wurde nach dem dänischen Fundort Erteboelle am Limfjord benannt. Ihr Verbreitungsgebiet reichte von der Elbmündung im Westen bis nach Dänemark, Südschweden und Polen.
Dieser Jäger- und Sammler-Kultur wird von Archäologen ein hoher wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungsstand zugeschrieben. Die Erteboelle-Leute lebten in Küstensiedlungsplätzen mit einem Durchmesser von bis zu mehreren hundert Metern. Sie betrieben Hochseefischerei, verfügten über Stellnetze und jagten Meeresvögel und Meeressäuger, wie Robben und Kleinwale. Ihr Bootshandwerk war gut entwickelt. Sie waren in der Lage, Einbäume aus Lindenholz zu konstruieren.
In Mecklenburg-Vorpommern gibt es drei größere Fundorte an Land. Um 1900 wurden Fundstellen in Lietzow und Ralswiek (auf Rügen) entdeckt, 2002 eine weitere in Stralsund. In der Wismarbucht haben Archäologen seit 1998 an 17 Stellen unter Wasser Artefakte und Siedlungsreste aus der Erteboelle-Kultur entdeckt. 2003 fanden die Forscher 14 Siedlungsplätze in den Rügenschen Boddengewässern. Ein wichtiger Fundort in Deutschland ist auch Rosenhof in Ostholstein.
Dabei hatten sich die Archäologen nur einen der 14 Siedlungsplätze vorgenommen. Seine Fläche: rund 100 mal 100 Meter. Die Archäologen steckten mit Pfosten ein Raster am Meeresgrund ab und untersuchten zunächst lediglich ein Terrain von vier Quadratmetern, wo sie in Erdschichten bis zu einem halben Meter Tiefe vordrangen - und schließlich auf all die Funde stießen. "Die Fund- und Siedlungsdichte übertrifft die Funde in der Wismarer Bucht", zeigte sich Lübke kurz vor Abschluss der Sondierungstauchgänge sicher.
Die Untersuchungen zur steinzeitlichen Kultur im südlichen Ostseeraum sind Teil des Forschungsprojektes "Sincos" (sincing coasts) der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Geologen, Küstengeographen und Archäologen versuchen seit 2002 gemeinsam, den Gründen der Küstenverschiebungen im südlichen Ostseeraum auf die Spur zu kommen. Ein Anstieg des Meeresspiegels und eine Absenkung der Erdkruste sind der Grund, weshalb die Steinzeitsiedlungen heute unter Wasser liegen, sagte der Leiter der Forschungsgruppe, der Geologe Jan Harff.
Starke regionale Unterschiede
Offenbar gibt es aber starke regionale Unterschiede. Zeitgleiche Zeugnisse finden sich in der Wismarer Bucht in bis zu sieben Meter Tiefe unter dem Meeresspiegel. In den Rügenschen Boddengewässern von anderthalb bis zwei Metern Tiefe können die Forscher dagegen fast zu den Fundstellen waten. Zugleich wollen sie herausfinden, wann und wie sich die Steinzeit-Kultur auf die veränderten Lebensbedingungen durch den steigenden Meeresspiegel eingestellt hat.
Nach dem Willen des Archäologen Harald Lübke soll 2006 mit umfassenden Grabungen vor Rügen begonnen werden. Das Forschungsdefizit über die Kulturen im südlichen Ostseeraum sei gewaltig, sagte er. So könnten die Dänen ihre Kulturgeschichte bis heute nicht schlüssig erzählen, weil ihnen ein wichtiger Baustein zwischen der Bauernkultur in den Mittelgebirgsregionen und der dänischen Sammler- und Jägerkultur fehle.
Forscher rechnen mit weiteren Entdeckungen
Die Forscher gehen von weiteren wichtigen Entdeckungen vor Rügen aus. Die Archäologen hoffen, neben Holzgeräten und so genannten Kompositgeräten aus mehreren Teilen bei den Grabungen auch auf Steinzeitgräber und menschliche Überreste zu stoßen. "Die Erhaltungsbedingungen sind einfach exzellent", sagte Lübke.