Zart streicht Michael Friedrich mit den Fingern über die glatte Oberfläche einer riesigen Baumscheibe. Der Wissenschaftler von der Universität Stuttgart-Hohenheim erläutert anhand der Schwarzwaldtanne seinen Jahresringkalender. Die Ringe zeigen das Alter des Baumes an - 450 Jahre. Friedrich ist einer der wenigen Dendrochronologen in Deutschland. Der Begriff leitet sich aus dem Griechischen ab: chronos (Zeit) und dendros (Baum). "Der Reiz meines Forschungsbereiches ist, dass ich anhand der Jahresringe über tausende von Jahren in die Vergangenheit blicken kann", sagt der Agrarbiologe.
Bei der Tanne fällt auf, dass sie unterschiedlich eng beieinander liegen - je nach den äußeren Bedingungen: In feuchten warmen Jahren lagert sich eine dickere Zellschicht an als in trockenen und kalten. Die unterschiedliche Dicke wurde einzeln vermessen und in eine Zick- Zack-Grafik übersetzt.
Holz-Kalender
Entstanden ist eine Art Fieberkurve, die mit den Aufzeichnungen anderer Holzproben verglichen werden kann. "Durch diesen Abgleich können wir Balken aus alten Holzbauten aufs Jahr genau datieren", erläutert Friedrich. Denn Bäume aus der gleichen Region weisen das gleiche Jahresringmuster und damit die gleiche "Fieberkurve" auf. Der Bohrkern eines Balkens aus einem Ellwanger Fachwerkhaus, der mit der Tanne 72 Jahre überlappt, verlängert den Jahresringkalender bis ins Jahr 1510. Andere einander überlappende Stücke führen ihn 12.000 Jahre zurück - also fast bis in die letzte Eiszeit.
"Der Kalender funktioniert nur für Tannen-Holz aus Süddeutschland - für andere Regionen und andere Holzarten gibt es eigene Kalender", erklärt Friedrich. Er führt auch Kalender für Fichten, Kiefern und Eichen. In einem aktuellen Forschungsprojekt versucht er, mit Kiefernproben den Kalender bis 14.500 Jahre zurück zu verlängern. Zu dieser Zeit war Europa fast ausschließlich von Kiefernwäldern bedeckt.
Großer Nutzen für Bauhistoriker
Seine Wissenschaft hat für Bauhistoriker großen Nutzen. Seit den 70er Jahren wurde die Hohenheimer Forscher immer häufiger gebeten, das Alter von Holzteilen aus alten Häusern zu bestimmen. Die Dienstleistung ist mittlerweile in zwei Privatlabors ausgelagert worden. "Häuser zu datieren, ist schließlich keine Forschungsaufgabe der Botanik", sagt der 39-Jährige. Zu Rate gezogen werden die Experten nur bei besonders schwer sichtbaren Jahresringen oder neuen Holzarten. Mittels der Dendrochronologie lässt sich auch das Alter von Musikinstrumenten, Möbeln und Kunstwerken bestimmen.
Friedrich kann die "Fieberkurven" wie ein Buch lesen. Als Klimaarchiv geben sie Aufschluss über Umwelt und Wetter bis in die Eiszeit und dienen damit als Basis für die so genannte Paläoökologie - die Lehre von den Umweltbedingungen vergangener Zeiten. "Feuer, Dürren und Insektenplagen können wir aufspüren", erläutert Friedrich. Er stieß auch auf von Menschen ausgelöste Hochwasserkatastrophen: So erzählen die Jahresringe von einem vor 2000 Jahren von den Römern durch vermehrte Rodung ausgelösten Hochwasser im Main.
Eine weitere Erkenntnis hat Friedrich aus dem Studium der Jahresringe gezogen: Am Übergang von der Eiszeit zur Warmzeit vor 14.000 Jahren änderte sich das Klima mehrmals innerhalb von 10, 20 Jahren grundlegend. "Es gab Menschen, die in einer Warmzeit geboren wurden, in einer Eiszeit lebten und in einer Warmzeit starben." Das beunruhigt den Forscher mit Blick auf die Gegenwart: "Man muss damit rechnen, dass sich das Klima sehr schnell ändern kann, wenn wir auf es einwirken." Deshalb warnt er, an der Klimaschraube zu drehen: "Wir müssen wissen, dass wir ein Spiel mit ungewissem Ausgang spielen."