Guter Rat aus Gütersloh: Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung
hilft, jüngste Debatten um Fehltritte prominenter Politiker zu verstehen. Genauer:
Sie hilft zu verstehen, was die Politiker nicht verstanden haben.
Ob FDP-Chef Guido Westerwelle seine spendablen Unternehmerfreunde
im Regierungsflieger mitnahm oder NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers sich
vom eigenen CDU-Landesverband bei privaten Sponsoren andienen ließ - beide Protagonisten schienen schwer erstaunt, wie man ihnen einen Vorwurf
stricken könne. Hätten doch die Vorgänger auch schon so gemacht. Oder: Sei doch
alles legal.
Aber legal ist in Deutschland manches, was vielen Bürgern
trotzdem unredlich vorkommt - und zwar womöglich in wachsendem Maß. Das legt
zumindest eine Studie nahe, die die Bertelsmann-Stiftung schon Ende Dezember vorstellte,
die aber damals kurz vor dem Jahrswechsel kaum einer beachtet hat. Auch nicht
beim stern, der zum Bertelsmann-Imperium gehört. Projektleiter Jan Arpe stellte
den Report dieser Tage auf einer Veranstaltung des Berliner Landesverbands der
Freien Wähler vor.
Die Grundthese der Gütersloher Experten: Die Bürger misstrauen
der Politik mehr denn je, und sie beklagen vor allem einen übergroßen Einfluss
der Lobby. "Eine große Mehrheit hat nach dem Krisenjahr 2008/2009 ihr Vertrauen
in zahlreiche Institutionen, Entscheider und Verantwortungsträger verloren.
Inzwischen müssen ungefähr 70 Prozent der Bevölkerung als weitgehend resigniert
eingeschätzt werden", heißt es in der Studie, die auf 100 so genannten
Tiefeninterviews und älteren quantitativen Umfragen beruht.
Laut Arpe hat die Krise einen Trend nur verstärkt, der in den
80er und 90er Jahren begonnen habe. Seitdem schwinde das Vertrauen in die
Eliten von Politik und Wirtschaft - und auch in die Massenmedien.
In Zeiten der Globalisierung richtet sich die Politik nämlich
an den Bedingungen des weltweiten Standortwettbewerbs aus. Aus Sicht vieler
Bürger geht das auf ihre Kosten. Sie fühlen sich bei immer mehr Entscheidungen übergangen.
Der Wunsch nach Bürgerbeteiligung ist in den vergangenen Jahren gewachsen, wird
aber mehr denn je enttäuscht.
Nicht weniger als 96 der 100 im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung
Befragten waren der Meinung, dass die Menschen in Deutschland "betrogen und
fehlinformiert werden". Sie sähen "den Lobbyismus auf dem Vormarsch".

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
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Wenn Politiker - wie Ex-Kanzler Gerhard Schröder - praktisch
umstandslos zu Großkonzernen wechseln oder jemand wie Guido Westerwelle den
Eindruck hinterlässt, er bevorzuge große Parteispender, dann fühlen sich die
Bürger in ihrem Misstrauen bestätigt. Selbst wenn ein Mann wie Schröder seine
wirtschaftsliberalen Reformen aus den besten Absichten unternommen hat, werden
ihm viele diese nicht mehr glauben.
"Interessenkonflikte erhöhen die Wahrnehmung mangelnder
Integrität", schreiben die Autoren der Studie. Gerade wer von den Bürgern Opfer
verlangt, muss selbst besonders glaubwürdig sein. Schon im eigenen Interesse
müssten die Parteien darum mehr Zurückhaltung und Transparenz im Umgang mit
Wirtschaftsinteressen walten lassen.
Tun sie es nicht, wird sich das rächen - auch das lässt sich
aus dem Bertelsmann-Report ableiten. Obwohl die Bürger zunehmend resigniert
scheinen, gebe es ein "enormes Bereitschaftspotenzial für Partizipation" und
auch für Protest, sagt die Studie. Der bahne sich heute immer öfter über das
Social Web seine Bahn. Die Stiftungsleute nennenn die Beispiele der Studentenbewegung
"#unibrennt" in Österreich oder den - letztlich erfolgreichen - Entrüstungssturm
gegen die Internetsperren der "Zensursula" von der Leyen. Es fiele einem auch
das seinerzeitige Nein-Votum der Franzosen gegen den EU-Verfassungsvertrag ein,
das sich ebenfalls im Internet organisierte, vorbei an den beim Thema EU eher
konformistischen französischen Zeitungen.
Kurz: Wenn es brennt, dann im Web. "Die klassischen 'Gatekeeper'-Funktionen
von Massenmedien, Lobbystrukturen und politischen Parteien werden beim Agenda-Setting
immer häufiger aktiv umgangen", schlussfolgern die Bertelsmann-Leute. Da müssen
also auch wir Journalisten aufpassen.