Es duftet nach gebrannten Mandeln, Liebesäpfeln und Bratwürstchen. Der dumpfe Bass der Stereoanlagen mischt sich mit den Stimmen der Ansager, dem Lachen und Kreischen der Fahrgäste und dem Getöse der Fahrgeschäfte zu einem einzigartigen Klangteppich.
Auf dem Hamburger Dom
Für einen Augenblick vergessen die Besucher des Hamburger Doms den Alltagsstress und befinden sich an einem Ort der Nostalgie, des Nervenkitzels und der Illusionen. Einer, der diesen Trubel seit über 50 Jahren (er-)lebt ist der Schausteller Manfred Pluschies. Der Dom auf dem Heiligengeistfeld ist für ihn so etwas wie seine zweite Heimat.
Am gleichen Tag, jedoch bereits in den frühen Morgenstunden, steht Dieter Bruhn, bekannt als Aale-Dieter, an seinem Stand auf dem Hamburger Fischmarkt und preist seine Ware an. In der frischen Morgenluft direkt an der Elbe können Teigwaren, Obst, Käse, Blumen, Souvenirs und vieles mehr erstanden werden. Die Gerüche der Produkte vermischen sich und von allen Seiten bewerben Marktverkäufer ihre Waren.
Auf dem Hamburger Fischmarkt
Allen voran Aale-Dieter. Seit 62 Jahren ist das Hamburger Urgestein auf dem Fischmarkt tätig. Er ist längst selber eine Attraktion in Hamburg und lebt für die Institution. Jeden Sonntag wartet er spätestens ab halb fünf auf seine Kundschaft, und mit der Zeit bildet sich eine Menschentraube um seinen Wagen.
Aale-Dieter in Aktion
"Ein Ort, an dem sich die Leute aller Schichten treffen und lustig miteinander sind", so empfindet Dieter Bruhn (bekannt als Aale-Dieter) den Hamburger Fischmarkt. Seit März 2020 bleibt der Platz jedoch leer.
Bis vor einem Jahr war das immer so. Doch jetzt sieht die Realität anders aus. Das Heiligengeistfeld ist wie leergefegt. Pluschies’ bekanntestes Fahrgestell, der Rotor, ist in Einzelteile zerlegt und fristet sein Dasein auf dem Hof des Schaustellers. Bruhn verkauft keine Aale mehr auf dem Fischmarkt. Auf dem Gelände an der Fischauktionshalle, wo sich sonntagmorgens normalerweise Menschenmassen tummeln, herrscht trostlose Leere.
Fischmarkt und Dom in der Zwangspause
Unter normalen Umständen würde der Hamburger Fischmarkt rund 50-mal im Jahr stattfinden, mit insgesamt fast einer Million Besucher, sagt Mike Schlink, Pressesprecher des Bezirksamt Altonas. Dies sorge alleine für Gebühreneinnahmen von rund 420.000 Euro. Die drei Domveranstaltungen im Frühjahr, Sommer und Winter würden insgesamt sieben Millionen Besucher anziehen, erklärt Susanne Meinecke, Pressesprecherin der Behörde für Wirtschaft und Innovation. Nur für die Stadt bedeute der Dom jährlich schon etwa eine Million Euro Einnahmen.
Die Verbreitung des Coronavirus führte dazu, dass die beiden Institutionen abgesagt wurden. Am 8. März 2020 hatten die Marktverkäufer zum letzten Mal ihre Stände auf dem Fischmarkt aufgebaut. Ende Oktober sollten die Tore unter Einhaltung bestimmter Auflagen nach mehr als einem halben Jahr Pause wieder geöffnet werden. Doch wegen des anhaltenden Infektionsgeschehens verschob sich die Wiederöffnung erneut. Auch Frühlings- und Sommerdom mussten gestrichen werden. Für den Winterdom gab es bereits ein Hygienekonzept, die ersten Buden standen schon, als im Oktober auch hier die Absage erfolgte.
Das Heiligengeistfeld – unter normalen Umständen ein Platz für buntes Treiben. Seit über einem Jahr ist das Feld Dom-frei
Für Marktverkäufer und Schausteller stellt sich durch die aktuellen Restriktionen und die ungewisse Zukunft die Existenzfrage. "Vom Aufstehen bis zum Zubettgehen ist man Schausteller", sagt Pluschies, und Bruhn bezeichnet den Fischmarkt als seine "Lebensaufgabe". Hinzu kommt der touristische Aspekt. Fischmarkt und Dom waren fixe Programmpunkte eines jeden Hamburg-Besuchs. Seit einem Jahr bleiben die Touristen nun aber aus.
Alltag ohne Inhalt
Bruhn fehlt sein Markt. Beim Verkaufen der Aale ist er in seinem Element und macht daraus eine sagenhafte Show. Auf dem Fischmarkt ist er längst eine Legende. Als Hamburger Original ist er aber auch über dessen Grenzen hinaus bekannt. Viele Touristen besuchen den Fischmarkt nur seinetwegen. Das Gespräch mit dem sonst so gut gelaunten Entertainer ist geprägt von Enttäuschung. "Der Fischmarkt ist mein Herzblut", sagt Aale Dieter. Der 82-Jährige vermisst den Kontakt zu seinen Kunden. Aber vor allem vermisst er seine Bühne, den Verkaufsstand. Derzeit setzt sich Bruhn öffentlich für die Wiederöffnung des Fischmarkts ein – eine Aufgabe, die er sich eigentlich nie gewünscht hat.
Ähnlich geht es dem Schausteller Pluschies. Seine Familie lebt seit Generationen für die Schaustellerei. Seit über 50 Jahren ist sie mit Fahrgeschäften und Imbissbuden auf dem Dom zuhause. Ihre bekannteste Attraktion, der sogenannte Original Rotor, begeistert als steter Publikumsmagnet junge und alte Besucher gleichermaßen. Für ihn sei die Schaustellerei kein Beruf, sondern eine Berufung, sagt Pluschies. Seine besondere Verbundenheit zum Hamburger Dom ist nicht zu überhören, wenn er von ihm schwärmt wie von keinem anderen Jahrmarkt. "Die Corona-Pause ist für mich wie Entzug", sagt Pluschies. Die Ungewissheit, wann er wieder arbeiten kann, plage ihn auch psychisch.

"Gerade für Marktverkäufer und Schausteller, die ihren Beruf eher als Berufung sehen, geht es nicht nur um materielle, sondern um existenzielle Werte wie Identität", erklärt die Psychotherapeutin Heike Peper. Für die Betroffenen sei es, als hätte man ihnen den Boden unter den Füßen weggezogen. "Die Welt, für die man gelebt hat, bricht weg", erklärt die Präsidentin der Hamburger Psychotherapeutenkammer. Ein Problem sei auch, dass es – wie bei der Planung der Fischmarkt-Wiederöffnung im Herbst und des Winterdoms – manchmal Hoffnungsschimmer gebe, die aber sofort wieder zerstört würden. Gerade das Wechselbad an Gefühlen zwischen Hoffnung und Enttäuschung löse ein deutliches Stresserleben aus.

Zwar unterstütze die Stadt Hamburg das ambulante Gewerbe, in dem sie Schausteller und Marktverkäufer alle öffentlichen Plätze gebührenfrei zur Verfügung stelle, dies sei aber eher Beschäftigungstherapie als Einnahmequelle, berichtet Matthias Albrecht, Geschäftsführer des Schaustellerverband Hamburgs. Der Wegfall einer Vielzahl von Veranstaltungen und Märkten habe zu einem wirtschaftlichen Verlust von 80 bis 90 Prozent geführt. "Die Überbrückungs- und Novemberhilfen decken zum Teil die Betriebskosten, jedoch nicht den Lebensunterhalt", erklärt er.
"Hilfen scheitern in der Verwaltung, nicht in der Politik."
Matthias Albrecht, Schaustellerverband Hamburg
Hinzu kommt, dass besonders die Novemberhilfen zeitlich unpassend für die Schaustellerei seien. Weihnachtsmärkte öffnen zwar Ende November, die Hauptsaison für Volksfest, Kirmes und Jahrmarkt ist allerdings der Sommer. In diesen Monaten verdienen Schausteller Geld, das für das ganze Jahr reichen muss. Die eigentlichen Kosten würden die Novemberhilfen also nicht decken, kritisiert Albrecht.
Neue Konzepte für alte Institutionen
Das Bezirksamt Altona hat im letzten Jahr ein neues Konzept entwickelt, um die Zukunft des Hamburger Fischmarkts gewährleisten zu können. So soll die Institution zukünftig als "sonntäglicher Wochenmarkt mit besonderer Prägung" von 11 bis 15 Uhr und nicht wie gewohnt von 5 bzw. 7 bis 9:30 Uhr stattfinden. "Durch die zeitliche Verschiebung soll verhindert werden, dass Betrunkene vom Kiez und von der Schanze den Fischmarkt besuchen", sagt Bezirksamtsleiterin Stefanie von Berg.
Die Planung beinhaltet auch ein Schutzkonzept, welches die Einzäunung des Geländes, Kontrollen an festen Ein- und Ausgängen, die Überwachung durch Sicherheitskräfte und eine maximale Besucheranzahl von 500 vorsieht. Die Anzahl der Stände soll halbiert werden. Nach einem Rotationsprinzip dürfen die Händler ihre Waren an 60 Ständen anpreisen. Marktschreier, wie sie auf dem Fischmarkt bekannt sind, soll es nicht geben. Mit dem erarbeiteten Schutzkonzept würden pro Markttag zusätzliche Mittel in Höhe von rund 15.500 Euro benötigt, sagt von Berg. Die Finanzierungszusage sei ein großer bürokratischer Aufwand gewesen, aber zumindest für das Jahr 2021 solle die Finanzierung des Schutzkonzepts möglich sein.
Auch für den Hamburger Dom wird an Plänen gearbeitet. "Der Dom nimmt derzeit an der Pilotierung des Projekts Green Events der Behörde für Umwelt, Klima, Energie und Agrarwirtschaft teil", sagt Pressesprecherin Meinecke. Gemeinsam mit Veranstaltenden, Dienstleistenden, Verwaltung und Vereinen werde eine Handreichung für nachhaltiges Veranstalten in Hamburg und eine dazugehörige Checkliste erarbeitet. Die Handreichung solle zukünftig verbindlich sein für Veranstaltungen im öffentlichen Raum.
Auch der Schaustellerverband hat im letzten Jahr ein Hygienekonzept ausgearbeitet, welches vom Senat unterstützt wurde. Demnach sollen bis zu 6000 Besucher den Dom pro Tag besuchen können. Eine Vorab-Registrierung und Einlasskontrollen würden für ausreichenden Abstand sorgen und eine Vielzahl an Desinfektionsspendern könnten die hygienische Sicherheit der Gäste gewährleisten. Die steigenden Infektionszahlen im Winter haben dieses Konzept jedoch vorerst in die Schreibtischschublade des Senats zurückbefördert.
Hamburger Fischmarkt ohne Aale-Dieter
Das Argument, dass Betrunkene vom Kiez und von der Schanze den Fischmarkt besuchen, kann Bruhn nicht nachvollziehen. "Das mag vielleicht früher so gewesen sein, aber seit 25 Jahren ist das eine andere Welt", sagt der Verkäufer. Dabei wird seine markante Stimme laut. Man merkt ihm an, dass ihn diese Aussage über sein "Elixier", wie er den Fischmarkt nennt, besonders wütend macht. Mittlerweile sei der Fischmarkt ein Treffpunkt, an dem sich die Menschen wohlfühlen und friedlich miteinander in den Sonntag starten.
Auch die zeitliche Verschiebung ist Bruhn ein Dorn im Auge. "Um 13 Uhr sind die Menschen zu Hause, trinken Kaffee oder essen Mittag, aber kaufen nicht ihren Fisch auf dem Markt ein", meint Aale-Dieter. Man hätte den Fischmarkt am Leben halten müssen, aber mit dem neuen Konzept mache man die Tradition kaputt. Seine Enttäuschung ist so groß, dass er sich sicher ist: "Bei der neuen Version des Fischmarkts ist nicht mit mir zu rechnen."

Zukunft mit Tradition?
"Die 1200 Jahre alte Tradition der Volksfeste wird niemals wieder so sein, wie sie einmal war", ist sich Pluschies sicher. Die Familie ist enttäuscht, dass der Frühlingsdom 2021 erneut so kurzfristig abgesagt wurde, auch wenn sie aufgrund der steigenden Infektionszahlen Verständnis dafür hat. Von der Politik wünscht sich die Schaustellerfamilie mehr Planungssicherheit für die Zukunft. Dennoch lässt sie sich nicht unterkriegen. Derzeit bereitet sich Pluschies auf den Sommerdom und andere Volksfeste vor. "Eine andere Wahl haben wir nicht, als einfach weiter zu machen", sagt der Schausteller.
Sowohl der Marktverkauf als auch die Schaustellerei finden draußen statt. Beim Besuch der beiden Hamburger Institutionen befinden sich die Menschen an der frischen Luft. Matthias Albrecht vom Schaustellerverband bleibt deshalb optimistisch. "Beim Dom herrscht großes Potenzial einer Corona-konformen Großveranstaltung", sagt er. Auch Pluschies will positiv in die Zukunft blicken. Er ist sich sicher, dass ein Volksfest im Freien mit entsprechenden Corona-Maßnahmen funktionieren könne.
Geht es nach Bruhn, hätte der Fischmarkt längst wieder öffnen können. Er ist der Meinung, dass ohnehin sehr wenig los gewesen wäre, weil durch die Pandemie kaum noch Touristen nach Hamburg kommen. Außerdem sei Abstandhalten aufgrund der großen Fläche des Fischmarkts einfach möglich. Für die Zukunft wünscht er sich, dass die Hamburger Institution möglichst bald zurück ist – mit ihm, und damit all ihren Traditionen.