Einmal die Elbphilharmonie für sich allein haben: die Bühne in der Mitte des menschenleeren Saals, umgeben von Zuschauerrängen, die sich terrassenförmig darum aufbauen. Der Saal leuchtet in goldgelbem Licht. Mit einem Klick nach vorne befindet man sich direkt vor der Orgel und mitten auf dem Podium, als könne man gleich persönlich ein Konzert geben.
Mit einem weiteren Klick ist es möglich, die großen wabenartigen Wände, die das Podium bis zum ersten oberen Rang umgeben, genauer zu betrachten. Auch das zugige Hauptfoyer und die bekannte, aber häufig windige, Aussichtsterrasse Plaza können besucht werden, inklusive Weitblick über den Hafen. Und das alles während man zu Hause gemütlich im Warmen auf dem Sofa sitzt.

Denn die Hamburger Elbphilharmonie macht ihre Säle inzwischen durch verschiedene Angebote in den eigenen vier Wänden erlebbar: virtuelle Rundgänge, bei denen die Räumlichkeiten sowie die längste Rolltreppe Westeuropas besichtigt werden können, ein Rundumblick vom Dach oder Virtual-Reality-Touren über die Plattform Google Arts & Culture werden angeboten. Ziel ist ein immersives Erlebnis, also das vollständige Eintauchen des Besuchers in die virtuelle Realität.
"Aktuell arbeiten wir an einem neuen 360-Grad-Projekt, das mithilfe einer Drohnentechnologie neue Perspektiven des Hauses ermöglichen wird", sagt Jan Reuter von der Elbphilharmonie. Dieses Projekt wird von Nicolas Chibac realisiert, Mitgründer des Virtual Reality Headquarters (VRHQ). Er hat mit einer Drohne die Entdeckungsreise SkyTrip360 entwickelt, mit der man ganz Hamburg aus der Vogelperspektive erkunden kann. “Man kann sich die Elbphilharmonie bisher schon in 360-Grad online angucken, aber das ist noch nicht das intensive Erlebnis, das wir sonst kreieren. Unser Ziel ist, immer die größtmögliche Immersion zu erzeugen.
Mit Skytrip wird man über Hamburg fliegen, in die Elphi hineintauchen, durch die Plaza fliegen, durchs Foyer und in den Konzertsaal”, erzählt Chibac. Man könne sich mit einer Person aus einer anderen Stadt virtuell per Skytrip treffen, sich während des Flugs auch unterhalten und als Avatare durch den Raum bewegen. Geplant sei diese virtuelle Reise für verschiedene Länder und Städte. "Unser Ziel ist, dass man nicht nur über die Städte fliegt, sondern auch in bestimmte Orte hineintauchen kann, um diese erlebbar zu machen."
Dass das virtuelle Reisen für Touristen zunehmend interessanter wird, zeigt auch eine Bitkom-Studie aus dem Jahr 2019: 55 Prozent der Befragten haben Interesse an virtuellen Reisen mit einer VR-Brille und 60 Prozent spricht die AR-Technologie zur Orientierung am Urlaubsziel an.
"Wir wollen unsere Inhalte möglichst vielen Personen zugänglich machen"
Dementsprechend setzen nicht nur die Elbphilharmonie und VRHQ auf das Vor-Ort-Erlebnis vom heimischen Sofa aus: Die Stiftung Historische Museen Hamburg (SHMH) arbeitet seit 2018 daran, die Inhalte der Museen möglichst vielen Menschen barrierefrei zugänglich zu machen, erzählt Anna Symanczyk aus der Online-Kommunikation der SHMH. Zur Stiftung gehören sechs Museen in Hamburg.
Angeboten werden aktuell zum Beispiel Rundgänge durch das Jenisch Haus oder das Museum für Hamburgische Geschichte, ein 360-Grad-Rundgang im Depot des Hafenmuseums, ein Rundgang als Rückblick zur "Tattoolegenden"-Ausstellung von Christian Warlich oder die virtuelle Begehung des Traditionsschiffs "Peking".
Wie die Elbphilharmonie nutzt auch die Stiftung teilweise die Plattform Google Arts & Culture, damit digitale Inhalte und virtuelle Rundgänge per Smartphone-App oder vom Computer aus entdeckt werden können. "Da kooperieren wir mit Google, die die Aufnahmen machen, weil wir nicht die technische Ausstattung und das technische Know-How in der Abteilung haben. Wir füllen die Stationen dann mit Texten, Fotos und weiteren Inhalten", sagt Symanczyk.
Die Intention hinter den digitalen Angeboten sei aber nicht, dass niemand mehr ins Museum vor Ort kommen müsse – sie fungieren vielmehr als digitaler Teaser: "Das ist nicht vergleichbar mit dem Gefühl, ein Bild wirklich live vor Ort zu sehen, aber es kann ein Vorgeschmack sein und die Kunstbegeisterten gucken sich das genau deshalb auch noch vor Ort an."
Anna Symanczyk: "360-Grad-Rundgänge zur Vor- und Nachbereitung"
Diese Intention teilt auch Claudia Kiani, Co-Gründerin und Geschäftsführerin von omnia360. Die Hamburger VR-Agentur hat sich vor allem auf die Produktion von 360-Grad- und 3D-Inhalten spezialisiert und einen Rundum-Rundgang für das Hamburger Planetarium produziert. Ihr Ziel: reale Orte virtuell erlebbar machen. Im Planetarium können die Zuschauer deshalb sogar einen Blick hinter die Kulissen werfen. Wie etwa beim Wasserreservoir, das eigentlich nicht besucht werden darf, weil es nicht feuerschutzkonform ist.
Und die Corona-Pandemie stärkt das Interesse: "Die Nachfrage der Kunden ist gestiegen. Sie überlegen nun, wie sie ihre Angebote digitalisieren können", berichtet Kiani. Vor allem die Museen würden die digitalen Möglichkeiten als Bereicherung und als zusätzliches Online-Marketing-Instrument ansehen, da so jüngere Zielgruppen über die Sozialen Medien besser erreicht werden könnten.
Mit einer selbstgemachten VR-Brille zum realeren Erlebnis

Die größte Hürde für die Anwendungen ist jedoch die Technik selber. Da sich nicht jeder eine teure VR-Brille leisten könne, würden sich die meisten Personen ohne Brille durch die 360-Grad-Rundgänge klicken, sagt Johannes Schaugg, Professor an der Hochschule der Medien in Stuttgart. Eine Alternative zu den teuren Brillen bieten sogenannte Cardboards, die entweder selbst gebastelt oder günstig erworben werden können.

Schablonen und eine genaue Bastelanleitung findet man zum Beispiel unter "mein-guckkasten" auf der Seite epic-stuff.com. Google bietet zwar seit Dezember keine Google Cardboards mehr zum Verkauf an, dafür wird die Bastelanleitung für das Google Cardboard aber weiterhin als Download angeboten.
Mit denen kann zwar ein immersiveres Reiseerlebnis ohne teure VR-Brille geschaffen werden, aber einen Ersatz zu Mobile- oder Full-Feature-VR-Brillen, die ein deutlich größeres Sichtfeld, mehr Komfort und mehr Interaktion in komplexen VR-Anwendungen ermöglichen, können sie nicht bieten. Doch auch bei den teuren Brillen sieht Schaugg noch Optimierungsbedarf: "Ein großes Problem ist, dass vielen Leuten auf Dauer damit schlecht oder schwindelig wird. Brillenträger haben auch Probleme: Man kann mit den guten Brillen zwar bestimmte Dioptrienwerte ausgleichen, aber das reicht bei vielen alleine nicht aus."
Auf der Suche nach Schmugglerware im Hamburger Hafen

Wer diese Probleme nicht hat, kann auch virtuelle Attraktionen nutzen, die direkt vor Ort besucht werden können und hochwertige VR-Brillen bereitstellen. So wie im Discovery Dock, direkt gegenüber der Elbphilharmonie. Hierbei sollen Vor-Ort-Erlebnisse um virtuelle Erfahrungen ergänzt werden, um Dinge zu erleben, die sonst eher nicht besichtigt werden können. Im Hamburger Hafen etwa, wo auch virtuell eine Menge los ist: Der Zoll fahndet nach Schmugglerware, Containerschiffe müssen be- und entladen werden. Das Discovery Dock lässt die Besucher mithilfe von VR-Technik, Projektionen, Live-Simulationen sowie Sound- und Lichteffekten teilnehmen.

Auf spielerische Art können die Besucher so einmal selbst Kranführer einer Containerbrücke sein, virtuell im größten Trockendock Europas stehen, oder eben in die Rolle eines Zollfahnders schlüpfen. Wenn auch nur für rund drei Minuten, die Zeit an den beiden VR-Stationen ist recht limitiert. Auf dem Center-Table, einem großen 3D-Hafenmodell, können dafür noch die realen Schiffsbewegungen der letzten 24 Stunden nachvollzogen werden.
Panoramaflug im Airtaxi über Hamburg
Auch was in Zukunft vom Sofa aus möglich sein soll, bietet das VRHQ vorerst noch vor Ort an. Der Abflug des Skytrips findet in der Speicherstadt statt. Das Besondere vor Ort: Eine professionelle Doppelmayr-Seilbahn-Gondel für bis zu acht Personen steht mit mechanischen Elementen zur Verfügung. Die Besucher können in der Gondel Platz nehmen, in der sie – ausgerüstet mit entsprechender VR-Brille – gemeinsam einen virtuellen Panoramaflug über Hamburg erleben.
Laut Chibac bietet die Attraktion vor allem eine Besonderheit: "Wir können uns nicht nur umblicken, sondern können uns auch in den Raum hineinbewegen. Wir erfassen die Realität als 360-Grad-Film und dadurch, dass wir auch noch den Flugraum des Flugobjektes schaffen, der sich zu der Umgebung real verhält, ist man eben nicht statisch in einem Rundumblick."
VR könnte Doppelfunktion einnehmen
Für Nicolas Chibac von VRHQ wird Virtual Reality zukünftige Reiseerlebnisse verändern, von der Planung, über die Erfahrung selbst bis hin zur Inklusion: "VR wird ein starkes Marketingtool werden, um die Reiselust vorab zu wecken. Zum anderen auch als Alternative zur realen Reise. Die virtuelle Erfahrung wird nie so intensiv wie reale Reisen, aber dafür bequemer und noch mehr optimiert auf das, was man eigentlich erleben möchte."
Nicolas Chibac: "VR als Alternative zur realen Reise"
Virtual Reality könne also eine Doppelfunktion einnehmen und einerseits reale Reisen bewerben, diese andererseits aber auch teilweise ersetzen. Dieser Meinung ist auch Sascha Albertsen von Hamburg Tourismus: "Ich denke nicht, dass VR eine Gefahr für das reale Reisen wird, sondern eher eine Ergänzung, um sich vor der Reise über die Orte zu informieren." Und Claudia Kiani sieht vor allem Potential als Entscheidungshilfe, sei es bei Hotels oder touristischen Attraktionen.
Doch auch wenn reale Reisen so schnell nicht durch virtuelle Trips ersetzt werden können, ist das Potential groß. Wenn die Technologie noch weiterentwickelt ist und vor allem auch VR-Brillen für den privaten Gebrauch günstiger werden sollten, wird es neue Zielgruppen geben. Und dann wird die virtuelle Realität etwa auch für Menschen, die krankheits- oder altersbedingt nicht mehr in der Lage sind, zu verreisen, interessant.