Hamburgs Bühnen Theater in der Pandemie: "Wir haben die Sprache verloren"

Von Vanessa Bilardo und Sharifa Braimah Murtalah
Abstand halten ist das unfreiwillige Motto, aller Theater, der letzten Saison.
Abstand halten ist das unfreiwillige Motto, aller Theater, der letzten Saison.
© Brinkhoff/Mögenburg
"Vorhang zu", heißt es bereits seit Oktober für alle Hamburger Theater. Aber von Ausruhen keine Spur: Distanzvorschriften, leere Ränge, Live-Streaming – eine Branche passt sich an. Kann die Kunst das überleben? Ein Blick hinter die Kulissen.

Das Hamburger Produktionshaus Kampnagel ist bekannt für seine internationalen Gastspiele. Doch wie lässt sich die Zusammenarbeit mit den Stars aus dem Ausland inmitten einer Pandemie organisieren? Die Lösung des Theaters: Immungruppen. So verbrachte etwa die preisgekrönte österreichische Choreografin Florentina Holzinger die Zeit ihres Gastspiels mit ihrem Team in Gruppen-Quarantäne. In Deutschland angekommen wurden sie nicht wie üblich in Hotels untergebracht, sondern für zehn Tage in einem Haus an der Ostsee isoliert. Danach galt die Wohngemeinschaft als sogenannte Immungruppe, die Tänzer durften sich einander nun auf der Bühne ohne Einschränkungen nähern.

Nur mit dieser Methode könnten die Abstandsregeln unterlaufen und die Arbeit unter den erschwerten Bedingungen überhaupt fortgeführt werden, erklärt Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard. Trotzdem habe sich der gesamte Arbeitsalltag "fundamental verändert" – vom Kerngeschäft sei nicht mehr viel übrig. Das erzeuge viel Frust, schaffe aber gleichzeitig auch Raum für neue Projekte, sagt Deuflhard und verweist auf eine App-Entwicklung, die zu diesem Zeitpunkt wohl ohne Corona nicht gegeben hätte.

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Gleichzeitig entstünden neue Kollaborationen, fügt sie hinzu. Gemeinsam mit der freien Journalistin Caren Miesenberger initiierte Kampnagel etwa eine fünfteilige digitale Talkreihe zur kritischen Auseinandersetzung mit den Forderungen der "Zero Covid"-Kampagne. Zur Spielzeiteröffnung der Kulturfabrik wurde das Publikum überdies zu einem "Markt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen" eingeladen. Dabei wurden Gespräche mit 74 Experten und Expertinnen ermöglicht – unter ihnen neben Schamanen, Schülern und Pflegern auch Virologe Christian Drosten.

Der Proben- und Spielbetrieb ist aus dem Takt geraten

Auch im größten Sprechtheater Deutschlands, dem Deutschen Schauspielhaus, musste der Arbeitsalltag gänzlich umgestaltet werden. "Die Veränderungen sind gravierend", sagt Dramaturg Ralf Fiedler. Der Spielbetrieb ist vollkommen aus dem Takt, da der gesamte Proben- und Vorstellungsbetrieb pausiert. Tägliche Proben und abendliche Vorstellungen seien eigentlich der normale Rhythmus im Theater – "und der ist total gestört". Fiedler gestaltet derzeit die (eher fiktiven) Spielpläne – Corona-konform unter Berücksichtigung der Hygiene-Vorschriften mit reduziertem Platzangebot.

Die Bestimmungen seien jenseits der Bühne durchaus umsetzbar – die weitaus größeren Einschränkungen für die Arbeit sieht Fiedler auf der Bühne selbst; denn Abstand- und Hygieneregelungen gelten auch hier. Die Arbeit am Theater sei derzeit "eine Kombination aus Abstand halten, regelmäßigem Testen und individuellem Verantwortungsbewusstsein gegenüber den anderen", berichtet Ensemble-Schauspielerin Julia Wieninger. Proben würden in ausgedünnter Form stattfinden. Weder ein voll besetztes Orchester noch große Chorszenen sind derzeit möglich.

Publikum und Mitwirkende nehmen an einem "Markt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen" zur Spielzeiteröffnung der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel teil.
Publikum und Mitwirkende nehmen an einem "Markt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen" zur Spielzeiteröffnung der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel teil.
© Christian Charisius / Picture Alliance

Anders sieht die Situation beim selbständigen Schauspieler Till Beyerbach aus. Gemeinsam mit seinem Kollegen Lukas Ullrich hat er die Theatergruppe "Eure Formation" gegründet, die mit drei Programmen durch ganz Deutschland tourt. Die letzte Aufführung war im Oktober, seitdem haben sich die beiden in eine Art Winterschlaf zurückgezogen, um anfallende Kosten möglichst gering zu halten. Anfang Mai möchten sie mit ihren Proben wieder starten – wohl zunächst via Zoom.

Neue Ideen nur mit finanzieller Unterstützung umsetzbar

Die Situation der freien Künstler ist prekär, denn für sie heißt es: keine Vorstellungen, keine Gage. "Viele meiner Kollegen und Kolleginnen plagen derzeit Existenzängste", weiß die freie Schauspielerin Clarissa Börner. Sie selbst versucht, sich in der Spielpause neue Verdienstmöglichkeiten zu erschließen: Als ausgebildete Polizistin berät sie Filmproduktionen mit ihrer fachlichen Expertise. Um weiterhin kreativ zu bleiben, produziert sie zusätzlich unentgeltlich Videos, um Kinder von Migranten beim Deutschlernen zu unterstützen. So sind Kreativität und finanzielle Einnahmen auch ohne Bühnenauftritte gesichert.

Zusätzlich zu alternativen Verdienstmöglichkeiten steht freien Schauspielern als Soloselbstständigen staatliche Unterstützung zu durch, Sofort- und Überbrückungshilfe. Jedoch ist die Beantragung mit einigen Hindernissen verbunden. So müssen Corona-bedingte Einkommenseinbrüche von mindestens 50 Prozent nachgewiesen werden. Festangestellte Künstler haben es in dieser Hinsicht leichter, denn sie erhalten Kurzarbeitergeld. Um die Theater darüber hinaus finanziell zu unterstützen, gibt es diverse Hilfsprogramme, beispielsweise Digitalisierungsgelder. Dafür sei der jährliche Kulturetat im Jahr 2020 um 90 Millionen Euro aufgestockt worden, erklärt Enno Isermann von der Behörde für Kultur und Medien.

Amelie Deuflhard, künstlerische Leiterin und Intendantin, spricht während der Eröffnung des Internationalen Sommerfestivals 2020 auf Kampnagel.
Amelie Deuflhard, künstlerische Leiterin und Intendantin, spricht während der Eröffnung des Internationalen Sommerfestivals 2020 auf Kampnagel.
© Georg Wendt / Picture Alliance

Amelie Deuflhard begrüßt die vielen Förder- und Hilfsprogramme. Allerdings sieht sie Verbesserungspotenzial, da viele freischaffende Künstler noch durch das Raster fallen würden. Hierzu zählten etwa junge Schauspielabsolventen, internationale Freischaffende und Künstler mit Behinderungen. Daher hat Kampnagel den Entschluss gefasst, möglichst viele der Künstler zu fördern, die keinen Anspruch auf die Hilfsgelder haben. Das sei schwierig gewesen und auch nicht in allen Fällen geglückt, gesteht Deuflhard. Mithilfe eines vom Bund finanzierten Stipendienprogramms konnte immerhin 80 Künstlern ein Stipendium in Höhe von jeweils 5000 Euro ermöglicht werden.

Amelie Deuflhard: "Wir können uns nicht mehr äußern, sind nicht mehr sichtbar nach außen"

Neben der monatelangen Schließung haben die Hygienevorschriften und -beschränkungen in den geöffneten Sommer- und Herbstmonaten für anhaltende Verluste gesorgt. Das Schmidt Theater mit seinen weiteren Spielstätten Schmidts Tivoli und Schmidtchen auf dem Hamburger Kiez besuchten im letzten Jahr 440.000 Gäste. Durch die geringeren Belegungskapazitäten waren es ein Jahr später nur noch ein Viertel der Besucher. Viele Theater haben ihre Besucherzahlen noch nicht veröffentlicht, es dürften jedoch alle deutliche Einbußen erlitten haben.

Darunter leide vor allem die Kunst, sagt Schauspielhaus-Dramaturg Fiedler. Es fehle der Austausch mit den Zuschauern, sei es intellektuell oder als gemeinsames sinnliches Erlebnis – "Theater lebt von der Spürbarkeit". Bühnen und Publikum würden schon per se zusammengehören. Die aktuelle Situation nage am Selbstverständnis der Theatermacher. Die Auseinandersetzung mit dem aktuellen Zeitgeschehen sei schon immer die Aufgabe der darstellenden Kunst gewesen. "Wir haben die Sprache verloren. Wir können uns nicht mehr äußern, sind nicht mehr sichtbar nach außen", erklärt Ralf Fiedler.

Seit dem ersten Lockdown ohne Publikum (im Uhrzeigersinn von links nach rechts): Der Große Saal in der Elbphilharmonie, das Deutsche Schauspielhaus, die Staatsoper und das Thalia Theater. 
Seit dem ersten Lockdown ohne Publikum (im Uhrzeigersinn von links nach rechts): Der Große Saal in der Elbphilharmonie, das Deutsche Schauspielhaus, die Staatsoper und das Thalia Theater. 
© Christian Charisius / DPA

Die leeren Säle seien irritierend und die Stille im Zuschauerraum ungewohnt, sagt auch Schauspielerin Wieninger. Die Live-Streaming-Formate seien jedoch eine gute Alternative, da sie einer Aufführung im Theater entsprächen: Zuschauen und Spielen finde zeitgleich statt. Das Streaming würde deshalb bei ihr für einen ähnlichen Adrenalinschub sorgen. Und trotzdem: Die Schauspielerin sehnt sich nach Vorstellungen vor Publikum.

Zeit für einen Wandel?

Die große Hoffnung der Theater ist es, im Frühling wieder Zuschauer empfangen zu dürfen. Doch selbst wenn dieser Traum in Erfüllung ginge, würden immer noch die strikten Hygiene- und Belegungsrichtlinien gelten. Clarissa Börner fragt sich, ob eine Rückkehr zum Vor-Pandemie-Alltag überhaupt möglich sein wird: "Wird es, wie es vorher war, oder wird ein Großteil plötzlich einfach verschwunden sein?". Der freie Schauspieler Till Beyerbach ist sich hingegen sicher: Die Krise sei die Chance, dass "frischer Wind" ins Theater komme. Mit diesem Optimismus ist er nicht alleine.

Auch der Pressesprecher der Elbphilharmonie Tom R. Schulz zweifelt nicht daran, dass digitale Angebote erhalten bleiben: "Auch wenn wieder Livekonzerte mit Publikum stattfinden dürfen, werden wir manches davon ins Netz übertragen." Die Elbphilharmonie sei schon vor der Pandemie netzaffin gewesen – während der Pandemie habe sie ihr Online-Angebot noch einmal ausgebaut. So wurde kurzerhand das jährliche paneuropäische Festival "Rising Stars" in Zusammenarbeit mit der European Concert Hall Organisation als Digitalangebot umgesetzt. Statt durch die europäischen Konzertsäle zu touren, wurden die sechs Nachwuchstalente in der Elbphilharmonie aufgenommen und ihre Konzerte über eine Woche im Netz veröffentlicht. Für die Zukunft schließt Schulz weitere Formen digitaler Aufführungen nicht aus.

Dramaturg Ralf Fiedler sieht die Umstellung auf ein digitales Bühnen-Erlebnis kritisch: "Theater ist kein perfekt zusammengeschnittener Film, sondern lebt vom Live-Moment und der Möglichkeit der Fehler, der Veränderungen, aber auch einer besonders großartigen Vorstellung". Digitale Formate könnten daher nur als temporärer Ersatz fungieren. Trotzdem könne man sich mit Live-Streaming-Formaten bemühen, dem Theater-Feeling möglichst nahe zu kommen. Hier sieht Fiedler noch viel Entwicklungspotenzial: "Denkbar ist auch die Teilhabe und Interaktion von Personen, die gar nicht im Raum sind". Schauspielerin Julia Wieninger hofft, dass die hybriden Formen als Ergänzung erhalten bleiben. Dadurch könne man auch neue Zuschauergruppen erreichen.

Auch Amelie Deuflhard sieht die Krise als Chance für innovative Strukturen und neue Projekte. Diese seien digital oder auch analog für kleinere Programme im öffentlichen Raum denkbar. Das diesjährige Tanzfestival dient dabei als Vorzeigeprojekt, bei dem digitale Besucher mit dem neuen Theatererlebnis vertraut gemacht werden sollen. Und wer schon einmal da ist, kann seinen digitalen Besuch mit der neuen Kampnagel-App fortführen. Nutzer können hier mit anderen Gästen chatten und einen Blick in alle Räume des Theaterhauses werfen. In Zukunft werde Kampnagel digitale Angebote fest ins künstlerische Repertoire aufnehmen, erklärt Deuflhard: "Wir werden nie wieder nur analog arbeiten."

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