Der Schnee von Ischgl ist unberechenbar. Mal ist er curacao, mal camparirot. Mal jägermeisterbraun und mal biergelb. Und hin und wieder auch weiß.Wenn Dieter, Andy und die elf anderen der Pfälzer Ski-Clique bis vier Uhr morgens auf den Tischen tanzen und nicht mehr wissen, ob heute Freitag ist oder Februar, erscheint ihnen die verschneite Welt so bunt wie die Kleinbusladung Alkohol, die sie in das Tiroler Dorf transportiert haben. Und wenn Andy mittags aus dem Koma erwacht und fragt wie die Schneelage ist, wundert er sich nicht, wenn sein Zimmergenosse Dieter antwortet: »Wodkaorange und zwei Promille über Normalblau.«
Ischgl ist unberechenbar
»Es gibt so viele Dinge hier«. sagt Dieter, »die der Natur nicht gehorchen.« So meldet Europa Kälterekorde, und hier im Skiurlaub tanzen sie halbnackt im Schnee. So grölen Kölner Schnösel mit Zigarre und Zweireiher die Refrains der Toten Hosen, und an welche Naturgesetze soll man noch glauben, wenn dreadgelockte Snowboarder den »Griechischen Wein« von Udo Jürgens fehlerfrei singen?
»Party-Champions« möchten sie sein
Seit dem Sommer wußten sie bereits, daß sie Ischgl unsicher machen würden: dreizehn Männer zwischen 18 und 32. Ex-Fußballprofis Models, Jungunternehmer und ein eigens mitgebrachter Physiotherapeut für die Wunden der Nacht. Alle in festen Händen, aber frei für diese eine Woche. Skifahren können sie nicht gut. aber darum geht es auch nicht. »Party-Champions« möchten sie sein. Auf der Taya-Hütte, mittags um eins: Die selbsternannten »Sonnenkinder der Westpfalz« wollen nur ein paar Bier trinken. »um den ekligen Sektgeschmack aus dem Mund zu spülen«, und führen dann doch einen kollektiven Striptease vor. Stellen das Fleisch aus, das sie sonst mit vier Bogner-Schichten bedecken, und veranlassen einen distinguierten Schweizer zu der Bemerkung: »Hier funktioniert die Einheit von Nationalität und Intelligenz.
Je kälter es wird, desto leichter entkleiden sich die Deutschen.» Die Pfälzer sind unberechenbar. Sie mißbrauchen das Hüttendach als Rodelbahn und bejubeln jeden geplatzten Luftballon, als seien sie mit ihrem Heimatverein SV Hermersberg Bezirksliga-Meister geworden. Dazu knutscht der Hetero Andy den Hetero Dieter, und der Dieter den Norbert, und der Norbert den Olli, und sie singen, brüllen, krächzen die Ski-Hymnedes Winters.
»Die Deutschen haben mir jetzt schon einen ganzen Badesee ausgetrunken.«
Nun hat Thomas, der Hüttenwirt, schon viel erlebt, hat kitzbühelmüde Bundesliga-Profis kotzen sehen und flinke Schauspielerfinger in Dekolletes erwischt, aber diese Deutschen übertreffe bisher alles. »Die haben mir jetzt schon einen ganzen Badesee ausgetrunken.« Barkeeperin Andrea hält die Pfälzer für die »nettesten Ausbrecher aus der Anstalt Deutschland seit Beckenbauer«. Aber der lebt in Kitzbühel, und Kitzbühel ist sehr weit und sehr out.
Ischgl in Tirol, ein Dorf mit tausend Namen: »Party-Town«, »Vollzeithölle«, »Sexpalast«. »Überraschungsnest«. Der Begriff Alpen-Romantik ist für die Pfälzer Buben genauso grausam wie das Wort Seniorenferien. Sie schwärmen von der »Ischgler Hitze«, als sei sie eine gelungene Melange aus Ballermann und Reeperbahn, aber Mallorca ist die »Absteige für Proleten« und die Reeperbahn »zu kühl«. »Ischgl ist wie Mailand«, sagt Norbert, der als Model die Metropolen der Welt gesehen hat und sich nun hier austobt: »Sechs Jahre habe ich nur Silikon-Busen gehabt, jetzt freue ich mich was Richtiges in der Hand zu halten.«
»Gibt's das etwa in Garmisch oder München?«
Gefährlich sind hier nicht tückische Pisten, sondern balzende Konkurrenten, nicht rasende Snowboarder, sondern knappe Bierbestände. Und wenn sich in den »Apres-Ski-Locations« am frühen Abend Skistiefel-Schweiß, Parfümwolken und Bierausdünstungen zu dieser explosiven Duftnote vereinigen, die sie hier »Supufa« nennen (Suff, Puff, Action). »dann weißt du, hier bin ich richtig«, sagt Tim, der intelligente Kopf der Clique. Wenn dann in »Nikis Stadl« noch Animateure als Geister unter Hirschgeweihen tanzen und im Hotel Madlein nackte Frauen, dann haut es selbst Partykönig Andy um: »Gibt's das etwa in Garmisch oder München? Und das auch noch im Keller eines Luxushotels!«
Sabine 18 aus Frankfurt findet es in Ischgl noch härter als auf Ibiza. Wie so viele fährt sie in den Skiurlaub für gute Partys und schnellen Sex. »Hier mache ich an jedem Abend wofür ich zu Hause sonst zwei Wochen brauche.« Sabine ist im dritten Monat schwanger und froh, daß »die Pfälzer mich auch mit Bauch nehmen. Wir sind eine große Familie«, sagt sie. »Jeder darf mit jedem und auf jedem, und wenn du morgens mit zerkratztem Kinn und hohen Absätzen ins Hotel kommst, haben auch ältere Gäste was davon.« Sex ist in Ischgl Thema Nr.1 und Problem Nr.1: Draußen in der Natur ist es zu kalt, in den Fluren der Hotels zu viel Betrieb und so muß Klaus die ganze Nachtvor der Tür schlafen, weil »der Lange« Damenbesuch auf ihrem gemeinsamen Zimmer hat. Und Andreas, der Physiotherapeut aus ihrem Fußballclub, hat alle Mühe, die geschundenen Körper wieder zu richten. »Ich kenne meine Junge aber so fertig sind die auch nach einem Spiel nicht.«
Einmal im Jahr richtig peinlich sein
Ischgl ist die große Freiheit, das schichtenübergreifende Refugium für Cliquen: Einmal im Jahr richtig peinlich sein, lustig sein, Spaß haben. Aus Eis bauen sie dreimastige Segelboote in den Hang und unterkellern das Dorf mit Tiefgaragen. Und tatsächlich ist der Schnee hier auch ohne alkoholschwere Halluzinationen unberechenbar: morgens um fünf, wenn das Dorf schläft. Dann setzt sie für zwei Stunden eindiese fast unerträgliche Stille zwischen Nachtkoma und Morgenkater.