Europas Kulturhauptstadt 2008 Echt cool Liverpool

Andere Städte brüsten sich mit Mozart, Goethe oder Luther, am Mersey- River identifiziert man sich mit den Beatles. Ihre Musik hat die Stadt nachhaltig unter Strom gesetzt - der Puls der Liverpudlians ist hoch. Eindrücke aus Europas Kulturhauptstadt 2008.

Bill Heckle ist so etwas wie die Ein- Mann-Version von Liverpool: eigensinnig, an Probleme gewöhnt und stets bereit, seine Stadt gegen alles und jeden zu verteidigen. Außerdem ist er einer der größten Beatles-Fans der Welt mit einem enzyklopädischen Wissen über ihre ganze Geschichte. Wäre Heckle nicht so starrköpfig, gäbe es dieses Hotel in der North John Street nicht, das schon zwei Monate nach seiner Eröffnung zum Traumziel aller Beatles-Liebhaber geworden ist: das "Hard Days Night Hotel".

Heckle wollte keine gelbe Yellow-Submarine- Kitsch-Kaschemme, die ein paar Tourneeposter und Beatles-Fotos im Foyer hängen hat und Fans dafür ein Vermögen abnimmt. Ihm schwebte eine Art Tempel der Beatlemania vor, in dem Gäste zwischen echten Kunstwerken und Erinnerungsstücken übernachten und dabei gut essen und trinken können.

Heckle kaufte für diesen Zweck schon 1992 die Central Buildings, ein ehemaliges Handelshaus aus dem 19. Jahrhundert mit großen Marmorsäulen und enormem Treppenaufgang, direkt neben dem Cavern Club. Der gehörte Heckle bereits - ebenso wie das Busunternehmen Magical Mystery Tour. Sein erster Geschäftsplan errechnete einen Bedarf von sechs Millionen Euro für den Umbau in ein Hotel. Als er im September 2001 nach langen Verhandlungen mit den Banken endlich eine Kreditzusage hatte, flogen zwei Flugzeuge in New York in die Twin Towers.

Übernachten in der John-Lennon-Suite

"Das war das Ende", sagt Heckle, denn inzwischen waren die Kosten auf über 20 Millionen Euro gestiegen und es gab keine Kredite mehr für Tourismusprojekte. Jeder andere hätte spätestens da aufgegeben, aber ein Liverpudlian lässt sich auch von einer schlechten Weltsicherheitslage nicht unterkriegen. Heckle musste seinen Traum zwar an private Investoren in Liverpool verkaufen - er hatte sich jedoch ausbedungen, als Berater dabeizubleiben.

Und so können sich nun Gäste im ganzen Hotel auf die Suche nach subtilen Hinweisen begeben. In der John-Lennon-Suite zum Beispiel steht ein leerer Vogelkäfig, ein Hinweis auf die Zeile "This bird has flown" aus dem Lied "Norwegian Wood". Das Hotel-Logo ist der Anfangsakkord aus "A Hard Day's Night", die Bar "Hari's" zeigt George Harrisons indische Einflüsse, und in vielen Bildern, die über den Gästebetten hängen, hat die Künstlerin Shannon kleine Überraschungen versteckt, hier ein Friedenszeichen und dort eine Erdbeere auf der Sergeant-Pepper-Uniform.

Die Eröffnung des Vier-Sterne-Beatles-Hotels kam im Februar gerade richtig - 2008, das haben sich die Liverpudlians vorgenommen, soll das Jahr der Stadt werden. "Es ist die Zeit unserer Renaissance", sagt Bill Heckle. Der Anlass ist die Wahl zur europäischen Kulturhauptstadt 2008. Doch schon viele Städte hatten diesen Titel für ein Jahr - und wer erinnert sich noch an den Gewinner 2007?

Ein undefinierbares Gefühl des Aufbruchs

Liverpool hat da etwas bessere Karten, weil diese Stadt schon immer ein Mythos war. Sie ist nicht schön mit ihren vielen Baustellen und dem Lärm und Staub, der sich über die ganze Innenstadt legt. Das Ganze erinnert ein bisschen an Berlin-Mitte in den 90er Jahren, überall ahnt man, wie es einmal aussehen wird, und stolpert gleichzeitig über unebene Bürgersteige. Dazu gibt es ein undefinierbares Gefühl des Aufbruchs.

Liverpool hat aus der Not eine Tugend gemacht und sich in diesem Jahr selbst zum Kunstwerk erklärt. Es beginnt mit einer Reihe von Häusern, die an einer langen Einfallstraße stehen, alle leer und verrammelt. Jede Spanplatte in den Fenstern ist zum Gemälde geworden, eine sich ewig hinziehende Ausstellungsfläche im Brachland.

In der Nähe des Bahnhofs Moorfields hat Richard Wilson gleich ein ganzes leerstehendes Haus zum Kunstwerk erklärt. Langsam dreht sich dort ein ovaler Ausschnitt der Hausfassade wie ein großes Auge um die eigene Achse, hinein und hinaus aus dem Gebäude. Davor stehen zwei Männer und diskutieren die Statik der ganzen Angelegenheit. "Das müssen mindestens 32-Zoll-Schrauben sein!", sagt der eine, und der andere nickt bewundernd.

Hier nimmt man alles persönlich

Ganz Liverpool lebt diesen Jahresausflug in die Kultur. Das ist keine Veranstaltung für Touristen, wenn diese auch herzlich willkommen sind. Die Liverpudlians haben für die Figuren des Bildhauers Anthony Gormley gekämpft, die außerhalb der Stadt den ganzen Strand bei Crosby bevölkern und melancholisch hinausschauen aufs Meer. Sie sollten entfernt werden. Doch halb Liverpool protestierte, und jetzt werden sie bleiben.

"Diese Stadt ist nur das Nebenprodukt der Menschen hier", sagt Ben Johnson, der in der Walker Art Gallery öffentlich sein Gemälde "The Liverpool Cityscape" beendet. Akribisch malt er durch vorgestanzte Schablonen jede architektonische Feinheit an jedem Gebäude der Innenstadt, maßstabsgetreu. Und dabei schauen ihm Hunderte Besucher zu. "Für ein Haus im Bau fehlte mir die exakte Farbe der Steine. Da kam einer der Arbeiter in Gummistiefeln direkt von der Baustelle mit einem Ziegelstein in das Museum", sagt Johnson und lacht immer noch über das Gesicht der Museumswärter. "So etwas erlebst du nur hier, in Liverpool."

Liverpool nimmt alles persönlich. Natürlich vor allem, wenn es um seine berühmtesten Musiker geht. Der National Trust hat die beiden Häuser unter seine Obhut genommen, in denen John Lennon und Paul McCartney aufgewachsen sind. In anderen Gegenden Englands ist der Trust für die Erhaltung von Burgen und Nationalparks zuständig. In Liverpool haben die Experten die Wandfarben in Lennons Haus per Karbondatierung aufs Jahr genau bestimmt und entsprechend nachgemalt. Leuchtendes Türkis strahlt jetzt an der Küchenwand, und im Flur wurde eine Spinnentapete Meter für Meter nach Vorlage neu angefertigt. Es gibt Besucher, die angesichts von so viel Detailverliebtheit in Tränen ausbrechen.

Auf dem Weg zu einer Weltstadt

Bill Heckle hat auch schon in diesem Haus gestanden, bei Filmarbeiten, und hatte das Glück, eine ganze halbe Stunde in Lennons Kinderzimmer ausharren zu müssen, bis eine Kameraeinstellung abgedreht worden war: "Da konnte ich sehen, was er jeden Tag gesehen hat. Ich habe ihn da wirklich gespürt." Heckle schämt sich nicht dafür, ein bis in die Haarspitzen fanatischer Beatles-Fan zu sein. Liverpudlians lieben mit heißem Herz. Schwierig wird es, wenn sie sich zwischen ihren großen Idolen und ihrer Stadt entscheiden müssen.

Ringo Starr bekam das gerade zu spüren. In einer Talkshow wurde er gefragt, ob er nach Liverpool zurückkommen wolle, jetzt, wo sich so viel verändert habe. Da lachte er nur und sagte: "Nein!" Empörte Liverpudlians überschwemmten danach Radiosendungen und Zeitungen mit bösen Worten über den unflätigen Sohn der Stadt. Ringo war zu persönlich geworden. Und das wiederum kann Heckle richtig sauer werden lassen: "Das ist unsere verdammte Bunkermentalität. 25 Jahre lagen wir am Boden, und nur wir selbst haben die Stadt gegen die Häme verteidigt, die über uns ausgeschüttet wurde." Aber jetzt sei Liverpool auf dem Weg, eine wirkliche Weltstadt zu werden: "Unser Erfolg spricht doch für sich selbst! Nur wir Einwohner, wir müssen das noch lernen."

print

PRODUKTE & TIPPS