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Neapel Kein dolce vita: Besuch in einer der ärmsten Regionen Europas, wo die Mafia leichtes Spiel hat

In Süditalien herrschen Arbeitslosigkeit, Gewalt und Misstrauen
Zehn Autominuten von Neapels Altstadt in Süditalien entfernt treffen sich Jugendliche und Familien zum Grillen und Flirten. Und zum Üben des angemessen skeptischen Blicks.
© Mauro D'Agati/stern
Das Leben ist hart im Süden Italiens. Die Menschen erwarten nichts vom Staat und wenig von der Zukunft, ihre Lieder handeln von Unbill und Unglück. Und doch gibt es Hoffnung.

Der kleine Mann steht auf dem Balkon und singt. Es ist ein Klagelied über das bittersüße Böse der Liebe, das er durch seinen billigen Verstärker in die lichtlose Gasse hinabschickt. Vorbei an den Vorhängen aus trocknender Wäsche weht es in die Wohnungen der Nachbarn, die vor ihren Fernsehern sitzen und Fliegen verscheuchen; es dringt in die Läden der Pizzabäcker, die vorn Pizza machen und hinten Geschäfte. Ein Lied, das laut ist und voller Schmerz und das hier jeder kennt. Malafemmana, schlechte Frau. Ein neapolitanischer Klassiker: "Du bist schlimmer als eine Schlange, du hast meine Seele vergiftet. Ich kann nicht mehr leben ..."

Weiter nördlich, in Florenz, haben sie die Oper erfunden – tragische Helden, die tragische Heldentode sterben. Im Süden, wo es immer genug Leid gab, hat das Leben diese Lieder hervorgebracht. Sie erzählen von Herzensdieben und Schmugglern, von Liebe, Tücken und Tod. Von der Sehnsucht nach dem besseren Leben. Und von der Hoffnung auf ein bisschen Glück.

Italiens Süden ist arm

Der kleine Mann auf dem Balkon ist 61 Jahre alt und heißt Antonio Borelli. Er hat sich einen Künstlernamen gegeben, so wie die berühmten Sänger einen haben; er nennt sich: Topolino – Mäuschen. Vom Balkongeländer herab baumelt ein Körbchen – "Grazie" – aber viel drin ist heute nicht.

Manchmal verdient er ganz gut, sagt er. Um Weihnachten herum bis zu 50 Euro am Tag. Topolinos Blick ist wässrig, "schlechtes Leben". Er ist der einzige Balkon-Sänger Neapels, das Geschäftsmodell hat er sich selbst ausgedacht: Nach einer Haftstrafe wegen Drogenhandels – "zu Unrecht!" – steht er unter Hausarrest. Und auch wenn die Nachbarn anfangs wenig Verständnis für seine Lautstärke hatten – dass man einen Weg finden muss, um Geld zu verdienen, das verstehen sie hier alle. Die Kunst, sich zu arrangieren, "l'arte di arrangiarsi", gehört zum Alltag.

Er nennt sich Topolino in Anlehnung an die großen italienischen Sänger, die oft Spitznamen tragen. Von seinem Balkon lässt Antonio Borelli neapolitanische Klassiker in die Gasse schallen. Geld holt er sich via Korb nach oben, er steht unter Hausarrest – wegen Drogenhandels
Er nennt sich Topolino in Anlehnung an die großen italienischen Sänger, die oft Spitznamen tragen. Von seinem Balkon lässt Antonio Borelli neapolitanische Klassiker in die Gasse schallen. Geld holt er sich via Korb nach oben, er steht unter Hausarrest – wegen Drogenhandels
© Mauro D'Agati/stern

Italiens Süden ist eine der ärmsten Regionen Europas. Und der Teil des Landes, in dem alles aufeinandertrifft: Arbeitslosigkeit, Mafia, Migration. Misstrauen gegenüber dem Staat und gegenüber seinen Institutionen.

Anders war der Süden schon immer. Der Mezzogiorno, der sich von den Abruzzen aus über die Sohle des Stiefels bis Sizilien hinabzieht, wird von Norditalien aus gern so betrachtete wie der prollige Cousin in einer Großfamilie: zu laut, zu faul, zu bunt angezogen, ständig pleite und immer mit einem Bein im Knast. Andersherum ist es aber auch nicht besser: Die Menschen im Norden – kaltherzige Kreaturen seien das, die viel vom Geldmachen verstehen, aber nichts vom Glück. Und überhaupt: Der Norden habe den Süden immer ausgebeutet. Nur zwischen Neapel und Palermo finde man das wahre Italien, heißt es, die Seele des Landes – mit all ihren Brüchen und Widersprüchen.

"Segel" heißt dieser Betonklotz im Viertel Scampia im Norden Neapels. Einst Vorzeigesozialbau, ist er heute Drogenumschlagplatz und Kulisse für Mafiafilme.
"Segel" heißt dieser Betonklotz im Viertel Scampia im Norden Neapels. Einst Vorzeigesozialbau, ist er heute Drogenumschlagplatz und Kulisse für Mafiafilme.
© Mauro D'Agati/stern

Vom restlichen Europa aus betrachtet, ist der Mezzogiorno vor allem eine Problemzone. Keine Region hat so viel Geld bekommen wie Italiens Süden: Allein zwischen 2007 und 2013 wurden von der EU und dem römischen Staatshaushalt 91 Milliarden Euro bereitgestellt. Nicht einmal die Hälfte des Geldes wurde überhaupt abgerufen. Zu viele dunkle Kanäle, zu wenige förderungswürdige Projekte. Es war, als drückte man jemandem Wasserhähne in die Hand, damit er sich endlich ein Haus baut. Um dann festzustellen, dass es gar kein Material gibt für die Wände und das Fundament – und dass eigentlich auch niemand drin wohnen möchte. Seit Generationen leidet die Region unter Abwanderung. Wer etwas aus sich machen wollte, ging fort.

Rebellischer Süden

Als Standort blieb der Süden darum unattraktiv. Die berüchtigte A 3, die Autobahn, die sich bis Kalabrien hinab zieht, wurde erst Ende 2017 fertig. Nach 50 Jahren Bauzeit. Und das Schienennetz für Schnellzüge endet noch immer in Salerno, 50 Kilometer südlich von Neapel.

Seit den Wahlen im März erscheint das Land erneut geteilt. Innenminister Matteo Salvini, dessen fremdenfeindliche Lega drittstärkste Partei wurde, dominiert die politische Bühne des Landes. Italien sei nach rechts gerückt, heißt es. Für den Süden gilt das nicht – noch nicht. Die Menschen haben ganz andere Probleme: keine Arbeit, kein Geld. Es war der Süden, der die "5-Sterne-Bewegung" an die Macht brachte, aus Protest gegen die etablierten Parteien und wegen der versprochenen Grundsicherung von 780 Euro im Monat.

Luigi de Magistris kämpft als Bürgermeister seit 2011 für bessere Lebensverhältnisse
Luigi de Magistris kämpft als Bürgermeister seit 2011 für bessere Lebensverhältnisse
© Mauro D'Agati/stern

Hafenstädte wehren sich gegen Salvinis Anti-Seenotretter-Kampagne und vermehrt auch gegen seine Parolen. Sollte Italien sich entschließen, dem Innenminister weiter zu folgen, müsse es mit einem "rebellischen Süden" rechnen, schreiben die Lokalzeitungen. Dahinter steckt auch die Befürchtung, dass die Dauerhetze gegen Migranten dazu genutzt wird, alle anderen Probleme unter den Tisch fallen zu lassen.

Neapels stets dynamischer Bürgermeister Luigi de Magistris, 51, sieht darin auch eine Chance: Salvini als Feindbild könnte den Süden im positiven Sinne zusammenschweißen. Euphorisch beschwört er bereits den "warmen Südwind der Liebe und des Respekts", der Europa von den kalten Hassparolen befreien und humanistische Werte zurückbringen werde. Aus seinem Büro im zweiten Stock des prächtigen Rathauses blickt er auf den Golf von Neapel hinab und sagt: "Wir werden nicht zulassen, dass unsere Küsten zum Grab für Menschen und Menschlichkeit werden." Man dürfe die Wirkung der Tiraden Salvinis nicht unterschätzen, sagt er. Aber anstatt sie zu wiederholen, sollte man ihnen etwas entgegensetzen. "Sehen Sie hier irgendwo die Invasion, von der unser Innenminister spricht? Migranten sind keine Invasion. Es sind Menschen. Sie brauchen die Möglichkeit, sich etwas aufzubauen. Hass ist keine Lösung, Hass führt nur zu Hass."

Ein Mann grillt Maiskolben – mit zwei "Angestellten", Migration wird im Süden selten als Problem gesehen 
Ein Mann grillt Maiskolben – mit zwei "Angestellten", Migration wird im Süden selten als Problem gesehen 
© Mauro D'Agati/stern

Luigi de Magistris, ehemaliger Staatsanwalt und hartnäckiger Ermittler gegen Mafia und Korruption, ist seit 2011 im Amt. Seine Politik folgt einer pragmatischen Linie, die sich so beschreiben lässt: Stärkung von Solidarität und Gemeinsinn – nicht aus reiner Gutherzigkeit, sondern um Korruption und Verbrechen zurückzudrängen. Er hat nie für eine der großen Parteien kandidiert, sondern stützt sich auf ein Bündnis aus Bürgerorganisationen und Aktivisten. "Die Regierung soll erst mal regieren", sagt er. Bislang erlebe er nicht viel mehr als die Fortsetzung des Wahlkampfs. Von Rom scheint er ohnehin nicht viel zu erwarten: Er wünscht sich vor allem eine Stärkung der Städte und Regionen Europas, die miteinander mehr Ziele gemeinsam hätten als mit den Regierungen ihrer Länder. "Hier haben wir zum Beispiel ein tiefes Verständnis von Migration. Das ist für Berlin oder Barcelona auch relevant – unsere Städte müssen zusammenarbeiten. Nur Europa kann Europa retten."

Internationale Mafiagangs

In den Straßen Neapels jedenfalls begegnet einem das Porträt Matteo Salvinis nur auf einer Klopapierrolle für 1,50 Euro. Mit Hetze gegen Migranten kann hier kein Politiker Sympathien gewinnen. Vielleicht, weil Migration seit Generationen zu den Geschichten italienischer Familien gehört. Die Jungen, die ihre Dörfer verlassen müssen, um in der Fremde Wohlstand und Glück zu suchen – auch davon erzählen schon die alten Lieder; vom Abschiednehmen und vom Heimweh.

Wer in Neapel jemanden fragt, was das Problem mit den Migranten sei, bekommt zu hören: "Dass sie illegal sind." Wer illegal ist, landet schnell in den Händen internationaler Mafiagangs, in der Zwangsprostitution oder in einem der Ghettos für Feldarbeiter. Die Clans profitieren vom Asylrecht, das ihnen immer mehr Menschen mit Angst vor Abschiebung in die Hände spielt.

Politiker wie de Magistris reden nicht gern über den Einfluss des organisierten Verbrechens – das würde die Macht der Kriminellen nur stärken, so die Meinung. Lange Zeit war es so, dass das Patronagesystem der Mafia das soziale Gefüge beherrschte. In den armen Regionen hatten die Menschen gelernt, dass sie vom Staat nicht viel erwarten können. Heute ist es, als ob zwei Netze miteinander darum konkurrierten, wer die Regeln bestimmt: die Seilschaften der Halbwelt, mit ihren Gefälligkeiten und Strafen. Und die unzähligen Bürgerorganisationen, christlichen Einrichtungen und freiwilligen Helfer, die den Sozialstaat ersetzen.

Valentina (r.) mit Nachbarin und Tochter Patrizia, die Familien in den Gassen halten zusammen
Valentina (r.) mit Nachbarin und Tochter Patrizia, die Familien in den Gassen halten zusammen
© Mauro D'Agati/stern

Neapel ist eine Stadt, die am Rand an die Pariser Banlieue denken lässt und im Innern an Havanna; bislang wurde das historische Zentrum kaum gentrifiziert. Es herrscht viel Leerstand, von den Fassaden der ehemals mondänen Stadtpaläste bröckelt der Putz, Fenster und Türen stehen offen, das Leben wimmelt von den Balkonen: Wassermelonen, Brote, geklaute Handtaschen, alles wird in Windeseile nach oben gezogen, wo es in den Wohnungen verschwindet. Jede Gasse bildet eine verschworene Gemeinschaft.

Unten in der Küche, die auch das Wohnzimmer ist, bereitet Valentina am Herd Pasta mit Tomaten und Olivenöl zu, ihre kleine Tochter guckt "Kung Fu Panda", der Sohn spielt mit einer riesigen Plastikknarre. Die Väter? Die gibt es schon lange nicht mehr, sagt Valentina, so wie man sagt, dass es schon lange nicht mehr geregnet habe.

"Gomorrha"

In Valentinas Wohnzimmer hängt ein Gemälde: ein Mann um die 30, breitschultrig, akkurat gescheitelte schwarze Haare, Pilotenbrille. "Mein Bruder", sagt Valentina. "Er hat sich um alles gekümmert." Dann wurde er von der Camorra erschossen. Zwei Tage nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war. Warum er dort war? Bei der Frage schüttelt sie bloß den Kopf. Jeder habe mal Ärger.

Die Camorra mag längst nicht mehr so mächtig sein, wie ihr Mythos es ist, aber ihre Existenz hat der Grauzone viel Platz eingeräumt: Zwischen erlaubt und kriminell gibt es noch eigene Regeln für all die Dinge, die vermeintlich bloß ein bisschen illegal sind, ein bisschen unerlaubt. Es ist die dunkle Seite des Sich-Arrangierens.

"Die Mafia ist der größte Arbeitgeber im Süden", sagt Luca Caiazzo, genannt Lucariello. "Diesen Satz hört man immer wieder – weil sie ein feinmaschiges Netz von Abhängigkeiten spinnt. Vor allem aber vernichtet sie Arbeitsplätze. Die Mafia ist ein internationaler Konzern, der davon profitiert, dass niemand fragt, woher das Geld kommt." Lucariello trägt eine goldene Sonnenbrille und einen großen Ring mit einem Löwenkopf, den hat ihm seine Oma geschenkt. Er ist Rapper und Musiker, seine Songs findet man auf dem Soundtrack der Mafiaserie "Gomorrha".

Emanuele mit Hund Luca und Spielzeugpistole 
Emanuele mit Hund Luca und Spielzeugpistole 
© Mauro D'Agati/stern

In der Peripherie, wo die, wie er sagt, "richtig dreckigen Geschäfte" ablaufen – Crack, Waffenhandel, Erpressung –, arbeitet er manchmal mit Jugendlichen im Gefängnis. Er ist in den Vororten aufgewachsen, kommt aber aus einer bürgerlichen Familie. "Sonst säße ich jetzt nicht hier."

Viele seiner Freunde haben den anderen Weg eingeschlagen. "Ich verurteile das nicht. Sie sind immer noch meine Freunde", sagt Luca. "Es geht so schnell. Eine Karriere – solche Träume kommen in der Welt der Kids hier gar nicht vor. Die Erfolgsgeschichten, die sie kennen, handeln von Mafiabossen." Die meisten sind noch minderjährig, wenn sie das erste Mal im Gefängnis landen. "Knast ist die Universität der Camorra", sagt Lucariello. "Dort lernen die Jugendlichen alles. Wenn sie rauskommen, sind sie bereit für die Kriminalität."

Dritte Welt

In Scampia und den angrenzenden Vierteln, in denen die Mehrzahl der etwa vier Millionen Einwohner der Metropolregion lebt, wachsen viele Kinder so auf: Sie machen in der Grundschule Ausflüge in die zwei großen Gefängnisse der Gegend, besuchen dort ihre Eltern und bepflanzen den Kräutergarten. "Das ist nun einmal die Realität hier", sagt der Jesuitenpater Fabrizio Valletti, der das "Centro Hurtado" leitet, eines der ältesten der über 30 christlichen Sozialzentren im Vorort.

Pater Fabrizio ist 80 Jahre alt, und er geht immer noch von Tür zu Tür, besucht die Familien. Für die Frauen, die sonst gar keine Arbeit hätten, haben sie in den Zentren Nähmaschinen angeschafft und eine Bibliothek, damit die Kinder auch mal Bücher sehen. Wenn man ihn fragt, was bei seiner Arbeit das Wichtigste sei, sagt er: "Wir sind da. Und jeder kann kommen."

In den engen Gassen der Altstadt stehen seit Jahren Häuser leer, Putz bröckelt, Fenster bleiben verrammelt
In den engen Gassen der Altstadt stehen seit Jahren Häuser leer, Putz bröckelt, Fenster bleiben verrammelt
© Mauro D'Agati/stern

Es bringe nichts, die Kriminalität einfach nur zu verdammen oder sie bekämpfen zu wollen, dazu sei sie zu sehr mit dem Alltag verknotet. "Man muss versuchen, das Denken zu verändern. Den Wert sauberer Arbeit begreiflich zu machen." Mehr als 30 Prozent der Schulabgänger seien unter 14; viele könnten nicht richtig lesen und schreiben. "Und sie haben auch keine Eltern, die es ihnen beibringen. Das ist eine Realität, die man mit den Mitteln der Justiz nicht erfassen kann. Aber es gibt kein staatliches Konzept für die Peripherie."

Gennaro war 14, als er das erste Mal geschnappt wurde. Jetzt ist er 21 und saß zweimal mehrere Monate lang im Gefängnis. Er hatte Drogengeschäfte erledigt für einen Freund. Den Rest seiner Strafe darf er wegen guter Führung im Hausarrest beenden. "Rione dei Fiori" heißt seine Siedlung, "Blumenbezirk". Aber alle nennen die Blocks nur "Terzo Mondo" – Dritte Welt. Es ist eine Welt der menschenleeren Straßen und vergitterten Fenster. Eine Welt, in der Frauen nur zum Einkaufen rausgehen, in der es strenge Regeln gibt. "Man muss aufpassen, was man anzieht und wie man sich benimmt", sagt Gennaro. "Man muss immer respektvoll sein. Sie sehen alles."

Zartes Wirtschaftswachstum

Während seiner Strafe hat Gennaro einen Schulabschluss gemacht und bei Pater Fabrizio einen Lehrgang als Buchbinder. Manchmal träumt er davon, eine Pizzeria in Frankfurt zu eröffnen oder einen Imbiss für neapolitanisches Streetfood. An anderen Tagen fühlt sich das Leben wieder so zäh an, dass er kaum aus dem Bett kommt. "Es ist, als würde ich tausend Kilo wiegen." Ein halbes Jahr noch ist er unter Aufsicht. Einmal am Tag muss er pünktlich auf die Polizeiwache zur Unterschrift, danach muss er sich im Sozialzentrum melden. Und wenn die Strafe vorbei ist? "Habe ich keine Termine mehr", sagt Gennaro. Dass er dann frei sei, sagt er nicht.

Gefragt, was er Jungs wie Gennaro rät, sagt Pater Fabrizio: "In die andere Richtung gehen." Nur so könne man sich von der Mafia entfernen. Schritt für Schritt.

Das Leben spielt sich zwischen Balkonen, kleinen Geschäften und Hinterhöfen ab
Das Leben spielt sich zwischen Balkonen, kleinen Geschäften und Hinterhöfen ab
© Mauro D'Agati/stern

Die Vereinigung "Svimez" erhebt die Wirtschaftsdaten des Mezzogiorno und vermeldet in ihrem jüngsten Report ausnahmsweise etwas Gutes: Zwar liegt die Beschäftigungsquote noch immer 35 Prozent unter dem EU-Durchschnitt, aber es zeichnet sich erstmals ein zartes Wirtschaftswachstum ab. Eine neue Generation entdeckt den Süden für sich wieder.

Drei Autostunden südlich von Neapel liegt Caselle di Pittari, eines der vielen Dörfer, aus denen die Menschen seit Jahren bloß wegziehen. Antonio Pellegrino ist nach seinem Soziologiestudium zurückgekommen – und er hat Freunde mitgebracht. Vor sechs Jahren haben sie zu viert "Terra di Resilienza" gegründet, eine soziale Kooperative für nachhaltige Landwirtschaft. Keiner von ihnen ist Bauer. Aber sie hatten eine Idee: "Wir haben alle Nachteile des Südens kombiniert", sagt Dario Marino, der eigentlich Politikwissenschaftler ist. "Das war die Grundlage für unser Geschäftsmodell."

Keine richtigen Jobs

Fehlende Industrialisierung der Landwirtschaft, kleine Flächen, geringe Erträge – sogar der Hang zu mafiösen Strukturen wurden im positiven Sinne gedreht. "Wir haben gesagt, dass wir alles so wie früher machen. Nach dem Prinzip des 'comparraggio': Ich tue dir einen Gefallen, du tust mir einen Gefallen, und irgendwann sind wir alle eine Familie. Die Bauern fanden das lustig."

Antonio Pellegrino (M.) gründete mit Freunden eine Bauernkooperative
Antonio Pellegrino (M.) gründete mit Freunden eine Bauernkooperative
© Mauro D'Agati/stern

Das Moderne an der Idee ist: In der Kooperative werden ausschließlich die alten Getreidesorten angebaut, die ursprünglich in der Region zu Hause waren. Kein Industrieweizen, alles bio. Seit einem Jahr haben sie eine Mühle, in der das Korn gemahlen und in hübsche Säcke verpackt wird. Der Vertrieb läuft über das Internet – oder im Direktverkauf an Bäckereien und Restaurants in der Umgebung.

Leben können die vier Freunde von ihrer Kooperative noch nicht. "Das haben wir aber auch nicht erwartet. Wir wollten einfach etwas Neues ausprobieren", sagt Dario. Sie alle kommen aus dem Süden, sind um die 40 Jahre alt, haben fast alle im Norden studiert und dort gearbeitet. Bis es ihnen reichte. "Es gibt keine richtigen Jobs, oft arbeitet man Vollzeit für ein Praktikantengehalt." Darauf hatten sie keine Lust mehr. So geht es vielen.

Der Rapper Lucariello singt auf Neapolitanisch über das Leben zwischen Knast und Kriminalität 
Der Rapper Lucariello singt auf Neapolitanisch über das Leben zwischen Knast und Kriminalität 
© Mauro D'Agati/stern

"Millennial Farmers" werden die Jungbauern genannt, deren Zahl in Italien in den vergangenen Jahren stetig gewachsen ist: Mehr als 55.000 Betriebe werden inzwischen von unter 35-Jährigen geführt.

Alternativer Tourismus

"Wir sind die erste Generation, die zurückkehrt", sagt Antonio. "Der Mezzogiorno funktioniert nach eigenen Regeln. Wir glauben daran, dass er sich aus sich heraus am besten entwickelt." Der Zeitgeist spiele dem Süden dabei in Hände: der Trend zum bewussten Konsum, die Nachfrage nach lokalen Produkten und alternativem Tourismus. "Genauso hat die mediterrane Kultur immer funktioniert", sagt Antonio. In einem Forschungsprojekt mit der Universität Neapel wollen sie untersuchen, unter welchen Bedingungen die alten Getreidesorten am besten wachsen. "Wir sind keine romantischen Hippies. Wir machen das nicht aus Nostalgie, sondern mit moderner Technik."

Stets habe man dem Süden Regeln übergestülpt, die irgendwie nicht zu ihm passten, sagt Dario. Dabei sei die Landschaft zerstört worden und die Kultur der Dörfer. Jetzt sei es an der Zeit, es mal andersherum auszuprobieren.

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