Wann kam er auf diese verrückte Idee? Zu Fuß über eine Insel zu stapfen, die nur aus Eis und Schnee zu bestehen scheint? Stefan Glowacz sagt: Als er im Flugzeug nach Amerika saß, eine Tasse Kaffee in der Hand. Da schaute er nach unten und sah: ewiges Weiß. Grönland. Unberührt und verführerisch. Gab es dort etwas zu entdecken, das aus 10.000 Meter Flughöhe nicht zu sehen war?
Grönland, von Westen nach Osten
Glowacz, der als Bergkletterer an steilen Wänden zu Ruhm gekommen ist, wollte sich nun in der Weite versuchen. Grönland, von Westen nach Osten, zu Fuß und auf Skiern, 1000 Kilometer Strecke. Rückblickend sagt er: "Ich habe das unterschätzt." Denn eine Reise durch das Eis, so stellte sich bald heraus, gleicht einem Drama von Samuel Beckett: Es geschieht sehr lange Zeit eher nichts.
Drei Mann machen sich im Juli 2018 auf den Weg. Sie lassen sich von einem Segelschiff an die Westküste bringen, an den Ata Sund in der Diskobucht. Zwei gestandene Abenteurer – Glowacz und der Fotograf Thomas Ulrich, der sich gut auskennt im ewigen Eis – sowie der junge Kletterer Philipp Hans. Am Anfang ist Action: mit Steigeisen von der Küste aufs Eis, über Schmelzrinnen steigen, Seilbahnen über die Gletscherwasser-Kanäle bauen, einen Weg durch das Labyrinth der kleinen Seen finden. Dann stehen sie auf dem Inland-Eis, einem gewaltigen Deckel, der über der Insel liegt, bis zu 3200 Meter hoch. "Ab hier läufst du über einen anderen Planeten", sagt Glowacz. Nur der Sonnenstand ändere sich, alles andere bleibe gleich. Kein Zeichen von Leben. Glowacz, ein freier, ein ungeduldiger Geist, fügt sich in eine, wie er sie nennt, militärische Disziplin.
Sechs Uhr aufwachen, frühstücken (eine "Müsli-Bombe"), danach noch mal 90 Minuten Powernap – damit der Körper mit dem Verwerten der Nahrung beginnen kann, ehe er extremer Belastung ausgesetzt wird. Um acht Uhr dann fertig machen, neun Uhr Aufbruch. Auf Wind hoffen, denn bei Wind können sie von Langlauf- auf Tourenski umsteigen, das Kite-Segel hissen und losrauschen, mit bis zu 30 km/h über das Eis. "Hast du keinen Wind, weißt du: wieder neun Stunden stapfen", sagt Glowacz. Da ist der Kopf gefordert. "Du gibst dir Themen, machst Pläne für das restliche Jahr, aber bald kannst du keinen klaren Gedanken mehr fassen, du zählst die Stunden runter." Gibt es eine Erleuchtung? "Nein, nur Buckelei", sagt Glowacz.
Drei Männer entdecken die Langsamkeit. "Wir haben uns die maximale Distanz ausgesucht", sagt Glowacz. "Einen Weg, den vor uns noch keiner gegangen ist." Aber kommt kein Wind, gerät der Zeitplan in Gefahr. Sie müssen es nach Osten schaffen, bevor der Winter anbricht. Ihre Verpflegung – neben dem Müsli noch Suppe, Trockenfleisch, Studentenfutter und Energieriegel – ist für 40 Tage berechnet. Am Tag 20 stellen sie fest, dass sie noch lange nicht die Hälfte der Strecke geschafft haben. Im Kopf dreht sich fortan der Gedanke: "Ab wann rationieren wir das Essen?"
Lauter, als die Gedanken sind, ist nur das Rauschen des Blutes in den Ohren. "Du siehst nichts, du hörst nichts", sagt Glowacz. "Wie in einer Blase." Diese Weite, diese Wüste, diese Kälte, die in jede Ritze kriecht, sogar in die dreilagigen Handschuhe – "du realisierst, dass du hier nicht hingehörst. Du willst weg, aber du kommst hier nicht weg."
Minus 40 Grad
Bald geht den Männern der Gesprächsstoff aus; alles ist gesagt. Ihre Abendroutine: eine Stunde Zelt aufbauen, dann Schnee schmelzen für 15 Liter Wasser. "Das geht so langsam, dass du bis Mitternacht am Benzinkocher sitzt." Geht der Kocher aus, sinkt die Temperatur im Zelt auf minus 15 Grad, wie in einer Kühltruhe. Der Schlaf kommt ohne Träume: "Du bist in Alarmbereitschaft: Kommt ein Orkan? Hält das Zelt?" Der Tagesanbruch des 25. August ist minus 40 Grad kalt.
Eines Morgens endlich Wind. Fünf Tage lang weht er; jetzt jagen die Männer über den Schnee, die Kite-Segel ziehen sie bis zu 120 Kilometer am Tag. "Du musst total konzentriert sein", sagt Glowacz. "Du fährst über knallharten, verblasenen Boden mit Wellen und Rillen, und hinter dir knallen die Schlitten."
Bald fällt das Höhenmeter: Die Eisplatte senkt sich Richtung Osten, das Ziel rückt näher. Der Himmel am Horizont verdunkelt sich – ein Zeichen dafür, dass Wasser unter ihm ist. Die ersten Gesteinsbrocken ragen aus dem Eis, Nunataks, die am Rand eines Eisschildes auftauchen. Moschusochsen treten ins Bild.
Ihr Ziel, der Scoresbysund, ist bereits mit Eisschollen überzogen. Mitte September; der Winter kommt früh. Wo bleibt ihr Schiff? Sie haben noch für drei Tage Proviant. "Wir hatten ein Gewehr dabei. Als Schutz gegen Eisbären. Zur Not hätten wir einen Ochsen geschossen", sagt Glowacz. Hinter einem Eisberg taucht endlich das Segel auf. Geschafft. Das Gewehr bleibt unbenutzt.
Fremder Planet
Stefan Glowacz sagt, er habe auf dieser Reise die Geduld erlernt. "Ich war oft grundlos grantig. Auf mich selbst. Weil ich diese Gelassenheit nicht entwickeln konnte. Ich konnte nicht akzeptieren, dass ich mich den Gegebenheiten unterwerfen musste." Auf dem Eis, so weiß er nun, müsse man sich unterordnen. "Beim Klettern", sagt er, "bestimmst du die Abläufe. Hier bestimmen die Abläufe über dich. Du kannst aus dem Korsett des weißen Immergleichen nicht ausbrechen."
Am 21. September verlassen die Männer den fremden Planeten. Glowacz ist sich sicher, dass er nicht zurückkehren wird.