Peking privat Aus neu mach alt

  • von Stefan Schomann
Denkmalschutz als Mittel zum guten Zweck: Pekings Einkaufsmeile Qianmen Dajie zeigt Chinas unbekümmerten Umgang mit dem historischen Erbe. Die nostalgische Straße wurde erst Wochen nach den Spielen fertig.

Unter all den imposanten Stadttoren von Peking ist das Qianmen, das "Vordere Tor", das Imposanteste. Ein Tor wie eine ganze Burg, ein gebieterisches HALT! vor dem Tiananmenplatz und dem kaiserlichen Palast. Über vierzig Meter hoch, mit Schießscharten für Bogenschützen, wuchtig wie ein Tresor, dabei elegant dank der austarierten Proportionen und der nobel geschwungenen Dächer.

Die von Süden darauf zulaufende Qianmen Dajie war seit je eine der wichtigsten Einkaufsstraßen der Stadt. Im Jahr 1900 wurde sie von Truppen der westlichen Mächte verwüstet. Nach und nach wieder hergestellt, verkam sie unter Mao zum schäbigen Basar, später hineingepropfte Neubauten machten sie nicht besser. Zur Olympiade wurde sie nun ein zweites Mal aufgebaut, um als Nostalgiemeile eine der großen Attraktionen der Stadt zu werden.

Disney in Fernost

Die Qianmen Dajie ist bereits begehbar, doch noch stehen die meisten Läden leer. Denn sie ist drei Monate zu spät fertig geworden. Alle anderen Olympia-Projekte lagen im Plan, wurden meist sogar vor der Zeit vollendet. Mit der Qianmen Dajie jedoch gab es Probleme. Denn hier sollte nichts Neues entstehen, sondern Altes. Die Stadtplaner taten sich schwer mit der ungewohnten Aufgabe; ein Neubaugebiet wäre längst bezugsfertig. Hier aber wurden Dutzende von Entwürfen erstellt und wieder verworfen. Sollte man die nebulösen Anfänge aus der Ming-Dynastie beschwören? Oder den Zustand vor der Verheerung, sagen wir anno 1888? Schließlich entschied man sich für die 20er Jahre, weil davon genügend historische Fotos existierten, um eine Rekonstruktion möglich scheinen zu lassen. Das Ergebnis ist ein buntes Allerlei aus Kramläden, Theatern, Teehäusern und kleinen Herbergen, durchsetzt mit kolonialen Einsprengseln wie dem französischen Postamt, dem Uhrturm und - Gipfel der Nostalgie - einer Straßenbahn.

Über den Autor

Aus Peking berichtet: Stefan Schomann, geboren 1962, freier Autor und Reporter, lebt in Berlin und Peking. Zuletzt erschien sein Buch "Letzte Zuflucht Schanghai" im Heyne Verlag, eine wahre Geschichte aus den vierziger Jahren, über die Liebe zwischen einem jungen jüdischen Emigranten und einer Chinesin aus gutem Hause.

Mehr über ihn unter www.autoren-reporter.de

Schon viele der historischen Gebäude waren Nachahmungen älterer oder ausländischer Vorbilder. Wir haben es also mit Zitaten von Zitaten zu tun. Kein Wunder, dass die ganze Szenerie wie eine Kulissenstadt aus einem Filmpark anmutet. Wo steht die Kamera? Ein Hauch von Disney in Fernost, aber doch sympathischer als Amerikas hirnlose Konsumwelten, schon weil der erste Laden eine Buchhandlung ist. Die breite Fußgängerzone wird noch durch Blumenkübel, Sitzbänke und Laternen in Form von Vogelkäfigen aufgemöbelt. Im schmucken Spalier finden sich etliche Bauten, die hier gar nicht standen. Umgekehrt wurden viele noch bestehende Häuschen abgerissen, weil sie nicht repräsentativ genug schienen. Gleichwohl ist die Qianmen Dajie Ausdruck einer Rückbesinnung, die Peking mittlerweile dringend braucht. Sie bildet zumindest ein symbolisches Gegengewicht zur manischen Modernisierung des letzten Jahrzehnts.

Nostalgie als Raubkopie

Nostalgie ist dem chinesischen Denken weitgehend fremd; Entwickeln geht vor Bewahren. Dementsprechend wird Denkmalschutz hier nicht um seiner selbst willen betrieben, sondern als Mittel zum Zweck. Wenn er nützt, wenn er etwas einbringt, indem er zum Beispiel Touristen anzuziehen verspricht, dann ja. Aber auch dann nur halbherzig. Es genügt die Rekonstruktion in groben Zügen, als Raubkopie vergangener Zeiten. Ein minuziös geplantes, vieltausendteiliges Puzzle wie die Dresdner Frauenkirche wäre in China undenkbar, schon, weil es viel zu lange dauern würde und ungeduldige Häuptlinge ständig mit ihren launigen Weisungen dazwischenfunken würden.

Wo finden wir dann noch das alte, eigentliche China? Wo das kostbare Original? Ein zutiefst europäischer Reflex, mit seinem Wunsch nach Aura und Authentizität. Ich empfehle als Kontrastprogramm die südwestlich sich anschließende Provinz Shanxi. Sie ist Teil des großen Lößplateaus, das gern als Wiege Chinas apostrophiert wird. Nahezu sämtliche Sehenswürdigkeiten hier sind älter als alles, was Besucher in Peking zu Gesicht bekommen.

Die zauberhafte Klosteranlage von Jin Ci etwa, mit ehrwürdiger Patina und uralten Bäumen, stammt aus der Song-Dynastie, um das Jahr 1000 unserer Zeitrechnung. Die mittelalterliche Kleinstadt Pingyao, ein chinesisches Rothenburg mit wuchtiger Stadtmauer und verschachtelten Handelshäusern, verlegt ihre Ursprünge gar 2800 Jahre zurück. Höchst apart auch der Qiao Jia Da Yuan, eine klassische Kaufmannsresidenz, in der Zhang Yi-mou einen seiner besten Filme drehte: "Die Rote Laterne". Ein aufwühlendes Kammerspiel – lang ist’s her, jetzt frönt er dem Machtrausch der Massenregie, zuletzt bei der olympischen Eröffnungsfeier, an der Leni Riefenstahl ihre helle Freude gehabt hätte.

Auf der Suche nach dem Original

Von ähnlichem Charakter, nur um ein Vielfaches größer, ist die trutzige Stadtanlage des Wang Jia Da Yuan, die sich in mehreren Segmenten über einen breiten Hang erstreckt. Teils noch original erhalten, teils gerade rekonstruiert, gibt sie ein weiteres Beispiel für Chinas zwiespältigen Umgang mit seinem Erbe ab. War der Komplex denn wirklich so groß? Lag er so malerisch hingebreitet da? Nicht unbedingt, erklären die Aufseher, aber so macht er mehr her.

Auch Altes muss heutzutage neu sein, um hier etwas zu gelten. Zu den bedeutendsten Sehenswürdigkeiten Chinas schließlich zählen die Buddhagrotten von Yungang, unweit der Industriestadt Datong am Nordrand von Shanxi.

Davon erzählt dann die Kolumne in der nächsten Woche.

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