Mehr als eine Milliarde Fernsehzuschauer - etwa ein Sechstel der Menschheit - blickt in der Silvesternacht auf den Times Square in New York. Seit über hundert Jahren senkt sich dort pünktlich um Mitternacht eine glitzernde Kristallkugel über den Platz. Weil diese Zeremonie ein so globales Publikum hat, wird auf den Neonwänden sogar für Produkte geworben, die in Amerika gar nicht zu haben sind.Wer zum ersten Mal zur "Drehscheibe der Welt" kommt, wundert sich: Das Ganze ist eigentlich kein Platz, sondern eine spitzwinklige Kreuzung. Hier gibt es keine Brunnen und Treppen, keine Straßencafés und kein Standbild. Die einzige Attraktion sind Werbeflächen. Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass jedes Gebäude am Times Square mit Leuchtreklame versehen sein muss.
Nicht gerade feucht-fröhlich geht es zu
Die Miete für eine solche Fassade beläuft sich auf bis zu zwei Millionen Dollar im Monat. Dafür gibt es aber auch garantierte Aufmerksamkeit: Die 25 Millionen Touristen, die jedes Jahr den Times Square besuchen, machen schätzungsweise 100 Millionen Erinnerungsbilder.Das alljährliche Silvester-Spektakel preist New York unbescheiden als die "größte Party der Welt" an. In jedem Fall ist es die trockenste Silvesterparty der Welt, denn Alkohol ist streng verboten, ebenso wie Knallkörper. Seit dem 11. September schauen von den umliegenden Hochhäusern Scharfschützen auf die Feiernden herab, und Hubschrauber kreisen am Himmel. Hinter der nächsten Straßenecke halten sich Spezialisten für das Aufspüren biologischer und chemischer Kampfstoffe bereit.
Das Besondere ist der "Zeitball"
Die weitaus meisten New Yorker würden deshalb auch nie auf die Idee kommen, zu Silvester auf den Times Square zu gehen: "Das überlassen wir den Cowboys aus dem Hinterland und den Ausländern", hört man dazu.Die erste Silvesterparty auf dem Platz gab es im Jahre 1904. Es war eine Feier zur Eröffnung des neuen Hauptquartiers der "New York Times". Deren Herausgeber Adolph Ochs hatte bei der Stadt durchgesetzt, den bis dahin als Longacre Square bekannten Platz - einen Acker voller Pferdeställe - zu Ehren seines Blattes in Times Square umzubenennen. Die erste Kristallkugel fiel drei Jahre später vom Himmel. Heute hat dieser "Zeitball" einen Durchmesser von 1,80 Metern und ist mit 504 Dreiecken aus Kristallen, 600 bunten Halogenlampen, Scheinwerfern und Spiegeln geschmückt.
Was für ein Wundergarten
Der Charakter des Platzes hat sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert, er war Spiegelbild der gesellschaftlichen Entwicklung New Yorks und Amerikas. Die berühmteste Werbung überhaupt war 25 Jahre lang ein Camel-Raucher, aus dessen Mund Rauchkringel aufstiegen - heute undenkbar im raucherfeindlichen New York. Und wo früher Casinos, Theater und Sexshops dominierten, residiert jetzt der Spielwarenriese "Toys R Us": "Der Times Square hat sich noch mehr als Las Vegas der Hegemonie der Familie unterworfen", stellt der Autor James Traub in seinem Buch "Spielplatz des Teufels" fest.Die einzige Konstante ist die Werbung. Die Neonschlacht der Multinationals fasziniert die einen und stößt andere ab. Der englische Publizist G.K. Chesterton schrieb 1922: "Was für ein Wundergarten muss dies für jeden sein, der so glücklich ist, nicht lesen zu können."