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Selbstbestimmtes Sterben Sozialethiker: "Das Tabu 'selbstbestimmtes Sterben' löst sich auf"

Porträt Markus Zimmermann
Markus Zimmermann ist an der Universität in Fribourg, Schweiz, Titularprofessor für christliche Sozialethik. Er beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit Themen rund um das Lebensende
© Stéphane Schmutz/STEMUTZ
Am 26. Februar 2020 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass einem Menschen bei seinem Suizid geholfen werden darf. Die rechtliche Regelung lässt seither auf sich Warten. Mit dem stern sprach der Sozialethiker Markus Zimmermann über die Frage, ob es in Deutschland bald einen "normalen" Umgang mit dem geplanten Tod geben wird.
Nina Poelchau

Herr Zimmermann, jeder Mensch, der über einen freien Willen verfügt, hat jederzeit das Recht, sich beim Sterben helfen zu lassen. So hat das Bundesverfassungsgericht 2020 entschieden. Aber die Umsetzung scheint kompliziert zu sein.
Deutschland befindet sich in einer Übergangsphase, es dauert, bis ein Land einen Umgang mit der Suizidhilfe gefunden hat. Schauen Sie in die Schweiz, dann haben Sie eine Vorstellung, wie es in Deutschland in etwa zehn Jahren sein könnte: Das Tabu löst sich auf, es kommt zu einer Normalisierung. Die Schweizer Sterbehilfe-Organisation Exit hat inzwischen 135.000 Mitglieder. In Todesanzeigen wird offen kommuniziert, dass jemand sich das Leben genommen hat, manchmal von den Verstorbenen selbst.

Ist Suizidhilfe in der Schweiz also bereits ein ganz normales Sterben?
Der assistierte Suizid wird vor allem für alte und kranke Menschen zu einer Möglichkeit, ihr Lebensende zu kontrollieren. Allerdings wird dieses Vorgehen vor allem von privilegierten Personen gewählt, die auch sonst im Leben die Möglichkeit hatten, selbst zu entscheiden. Das Sterben durch die eigene Hand bleibt ein unnatürlicher Tod, ein drastischer Akt. Die Angst, dass sich schwache Menschen dazu drängen lassen, hat sich bislang nicht bestätigt.

Viele Organisationen haben sich Grenzen verordnet. Sie assistieren nur dann bei einem Suizid, wenn jemand unerträglich leidet. Der deutsche Verein Sterbehilfe hat solche Grenzen nicht und hilft auch gesunden Menschen beim Suizid.
Mein Eindruck ist, dass jede seriöse Organisation letztlich auf eine gute Reputation bedacht ist. Schließlich geht es um ein sensibles, heikles Thema. Sicher gibt es Hitzköpfe, die auch eine Suizidhilfe bei kerngesunden Menschen anbieten würden; die große Mehrheit aber will nicht, dass sich gesunde Menschen töten.

Aber die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sind eindeutig: Jeder hat das Recht, über sein Lebensende zu entscheiden.
Die Logik "Da es nicht verboten ist, sich selbst zu töten, kann es auch nicht verboten sein, jemanden dabei um Hilfe zu bitten" ist zunächst einmal Theorie. Ein Staat ist auch verpflichtet, Leben zu schützen. Der Gesetzgeber muss überlegen, wie er diese Spannung konkret ausgestalten will.

Was würden Sie vorschlagen?
Das Parlament könnte ein Aufsichtsgesetz beschließen, das die Personen und Organisationen, die Sterbehilfe leisten, kontrolliert und das außerdem eine Qualitätssicherung der Suizidhilfe fordert. Ich hielte es überdies für sinnvoll, die Suizidhilfe nicht vollständig in Ärztehand zu legen, sondern – wie in Oregon in den USA und in der Schweiz – auch mit nicht ärztlichen Organisationen zusammenzuarbeiten.

Hinweis für unsere Leser:innen: So berichten wir über Suizide

Suizide und Tötungen mit anschließendem Suizid sind sensible Themen. Der stern berichtet darüber mit großer Zurückhaltung. Wir wägen das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegen die Interessen der Opfer und Betroffenen sorgfältig ab. Im Einklang mit dem Pressekodex nennen wir die Identität der Opfer nicht – außer Angehörige haben explizit zugestimmt oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt. Bei der Veröffentlichung von Fotos und der Schilderung näherer Begleitumstände zeigen wir besonders große Zurückhaltung.

Wie sollte entschieden werden, wer sterben darf und wer nicht?
Ich würde die Suizidhilfe auf Personen beschränken, die unerträglich leiden und schwer krank sind. Einfach macht das die Situation aber nicht, denn: Wer definiert, was unerträgliches Leiden genau ist? Was, wenn es um ein Leiden an Lebensmüdigkeit geht?

In Deutschland ist das sicherste Mittel, Natrium-Pentobarbital, für die Suizidhilfe nicht erhältlich, da es unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. Selbst Ärzte sind unsicher, was sie stattdessen verschreiben sollen – es muss ja zuverlässig wirken.
Auch das zeigt, dass sich Deutschland in einer Übergangssituation befindet. In der Schweiz besteht über eine ärztliche Verschreibung Zugang zu Natrium-Pentobarbital. Intravenös verabreicht wirkt es rasch und führt offenbar schmerzlos zum Tod.

Die Sterbehilfeorganisationen betonen, dass sie nicht auf wirtschaftlichen Erfolg aus sind. Glauben Sie das?
Diejenigen, die ich kenne, sind wohl Überzeugungstäter. Es geht ihnen nicht ums Geld. Die Suizidhilfe ist belastend und kompliziert, das macht jemand kaum, um damit reich zu werden.

Kann man sagen: Nach einer Zeit des Irrlichterns wird Deutschland bald einen Weg gefunden haben?
Die Diskussionen werden wohl nie aufhören. Die zentralen Fragen sind: Wie kann vermieden werden, dass alte und kranke Menschen zum Suizid gedrängt werden? Was ist, wenn psychisch Kranke sterben möchten? Kinder? Personen in Haft? Jedes Land muss seinen Umgang mit diesen schwierigen Fragen finden – den gesellschaftlichen Prozess halte ich für wichtig.

Sobald das eigene Urteilsvermögen nicht mehr vorhanden ist, kann man sich rein rechtlich betrachtet nicht mehr für einen assistierten Suizid entscheiden.
Das Thema Demenz hat die Diskussion über die "rechtzeitig" durchgeführte Suizidhilfe enorm befeuert. Das und die Intensivmedizin mit ihren Möglichkeiten, den Tod sehr lange hinauszuzögern, haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die Suizidhilfe und auch die Tötung auf Verlangen in vielen Ländern jetzt einen solch großen Raum einnehmen. Neben Belgien und den Niederlanden sind das inzwischen auch Österreich, Spanien, Portugal, Kanada, Australien, einige US-amerikanische Bundesstaaten. In immer mehr Ländern sehen wir ein Ringen um angemessene Regelungen und Lösungen.

Käme ein assistierter Suizid für Sie selbst in Betracht?
Aus heutiger Sicht ganz klar: nein. Meines Erachtens passiert im Sterben etwas, was ich erleben möchte – und was ich mir und meinen Angehörigen vorenthalte, wenn ich meinen Todeszeitpunkt selber plane.

Falls Sie Suizidgedanken oder Depressionen haben, sollten Sie mit jemandem darüber sprechen. Bei der Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Menschen, die Ihnen zuhören – und die Ihnen helfen können. Sie erreichen sie kostenlos unter 0800/1110111 und 0800/1110222. Mail- und Chatberatung unter www.telefonseelsorge.de Wenn Sie Fragen zu Depressionen haben oder Anlaufstellen in Ihrer Nähe suchen, wenden Sie sich an die Deutsche Depressionshilfe unter 0800/33 44 533.

Erschienen in stern 16/22

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