Genau das hatte ich befürchtet: Ich klingele zum Interviewtermin bei Dunkelziffer an der Tür und als mir geöffnet wird, bimmeln gefühlt in jedem Raum Telefone. Ist das jetzt die Hotline, unter der sich gerade Kinder und Jugendliche melden, die sexuelle Gewalt erfahren haben? Die Frage hebe ich mir für später auf.
Dunkelziffer ist ein eingetragener Verein, der in diesem Jahr 30 geworden ist. Leider, müsste man eigentlich sagen, war er keinen einzigen Tag überflüssig, denn die Zahl der Übergriffe ist nicht gesunken. Im Gegenteil, in der Zeit der Pandemie hat die sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sogar zugenommen. "Sie konnten ja nirgendwohin", sagt Vera Falck, Vorständin von Dunkelziffer e.V. und meine Interviewpartnerin. "Und rund 75 Prozent der Täter kommen aus dem sozialen Umfeld." Die Statistiken für das Jahr 2022 bestätigen einen erneuten Anstieg.
Damals nannte man sie "Kinderschänder"
Falck erzählt auch, dass einer meiner Kollegen den Verein "Dunkelziffer e. V. – Hilfe für sexuell missbrauchte Kinder" gegründet hat, Klaus Meyer-Andersen, der von 1977 bis 1997 als Reporter beim stern gearbeitet hat. Unter dem Titel "Kinderschänder", ein Wort, das man heute kaum noch verwendet, gaben Ann Thönnissen und Klaus Meyer-Andersen 1990 ein Buch heraus. Es schildert die Recherche-Erfahrungen, die die beiden Autor:innen Ende der 80er Jahre für den stern binnen acht Monaten in der Welt der aktiv Pädophilen gemacht haben. Meyer-Andersen hatte sich damals als "Uli Engler" in die Untergrund-Szene begeben, in der Videos verhökert und Kinder vermietet wurden. Dort hatte er sich als "vertrauenswürdig" erwiesen, indem er auf Anzeigen reagierte, Bilder und Videos kaufte und dann auch deren Produzenten traf: Familienväter, die ihr Geschäft von zu Hause aus, manchmal mithilfe ihrer Frauen, betrieben. Meyer-Andersen ist 2001 verstorben, sonst hätte ich ihn zu gern gefragt, wie man so eine Recherche durchhält.
"Es ist eine widerliche, aber notwendige Geschichte, eine Reportage über das Sexgeschäft mit Kindern", heißt es in dem Buch. "Und wenn ich Kinder sage, meine ich Kinder. Manche sind erst eineinhalb Jahre alt und werden, unfaßbar, von ihren Eltern vermietet. Andere sind sieben, acht, neun, zehn, und sie alle werden mißbraucht und haben keine Chance, sich zu wehren." Dass der Reporter nach seinen Erlebnissen aktiv wurde, indem er einen Verein zum Schutz von Kindern gründete, war vermutlich der einzige Weg, seine Erlebnisse zu verarbeiten.
Für mich war schon die Lektüre des Buches eine Qual, ich habe umgehend davon geträumt. Im weiteren Verlauf kommt daher ausschließlich die Expertin zu Wort.
Beamte an Landeskriminalämtern sehen noch heute derlei Videos und Bilder – täglich acht Stunden lang
Manchmal möchte man verzweifelt fragen: Wie kann es sein, dass sich in den vergangenen 30 Jahren nichts geändert hat? Doch offenbar stimmt das nicht ganz. Die aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamts lassen vermuten, dass die Aufmerksamkeit der Mitmenschen größer geworden ist und zu mehr Anzeigen führt. So erklärt sich wohl auch der aktuelle Höchststand in der Kindeswohlgefährdung. "Das ist unser wichtigstes Ziel", sagt Vera Falck, "dass mehr Menschen hinsehen, helfen und handeln. Das fällt vielen schwer, aber wenn noch mehr Menschen hinsähen, könnten wir noch mehr Kinder erreichen und schnelle Hilfe leisten."
Dunkelziffer arbeitet in zwei Richtungen. Einerseits betreut der Verein Kinder und Jugendliche durch therapeutische Hilfe, dazu kommen wir noch, andererseits schult und vernetzt er Fachpersonal in Seminaren. "Ein Aspekt ist der technische Bereich, in dem es bei den Schulungen etwa darum geht, wie man Täter im Netz verfolgen kann; das reicht von der IP-Adresse bis ins Darknet", erklärt Falck. "Dann gibt es den rechtlichen Teil, dort geht es um die Rechtsgrundlagen für Kinder- und Jugendpornografie, dort wird auch über konkrete Fälle, deren Auffindung und rechtliche Möglichkeiten gesprochen. Im dritten Teil geht es um Fallberichte und zum Beispiel darum, wann, wie und warum Schulfahndungen gemacht werden und wie eine Meldung beim BKA ankommt. Und zu guter Letzt gibt es einen vierten Bereich von einer Referentin des kriminologischen Instituts, die einerseits von Täterstrategien und andererseits über die Situation von Betroffenen beziehungsweise Opfern berichtet, die für kinderpornografische Zwecke ausgebeutet wurden." (Bei einer Schulfahndung werden Schulleitungen, Lehrkräften und Mitarbeitenden in Schulen Bilder von betroffenen Kindern gezeigt, deren Identität bislang nicht ermittelt werden konnte, Anm. d. Red.)
Die psychische Belastung für Beamte ist enorm
Neben den neuesten technologischen Entwicklungen hilft den Fachkräften in den Behörden aber auch der Kontakt zu anderen Einheiten: Durch persönliche Verbindungen entsteht ein Netzwerk, das die Zusammenarbeit beschleunigt. Die Teilnahme an den Seminaren von Dunkelziffer ist freiwillig und die Veranstaltungen sind stets ausgebucht. Vera Falck weiß auch, warum: "Es ist für die Beamten sehr schwer, zum Teil über viele Jahre hinweg von morgens bis abends Pornografie zu sichten. Ich selbst habe schon in unterschiedlichen Landeskriminalämtern gesehen, was die Mitarbeiter dort leisten müssen."
Falck schildert, wie der Alltag konkret aussieht: "Es ist gruselig, das aushalten zu müssen. Acht Stunden am Tag läuft aus allen Ecken der Räume Pornografie, um sichten zu können, ob sich darunter Kinderpornografie befindet. Unsere Teilnehmer sind häufig Jüngere, die erst angefangen haben, aber es kommen auch immer wieder alte Hasen dazu, weil sich die Technik verändert. Da ist es sehr wichtig, sich gegenseitig zu unterstützen. Besonders bedeutend ist der länderübergreifende Austausch zwischen den Beamten, da jedes Bundesland anders arbeitet. Bei aktuellen Fällen können sie nach den Seminaren einfach zum Telefon greifen oder eine Mail schreiben und fragen: Wie geht ihr damit um? Wo können wir ansetzen?"
Die Täter
Gibt es ein Muster, das Sie bei sexuellen Übergriffen erkennen?
Was ganz klassisch ist, ist, dass ein Täter sehr subtil vorgeht, gerade wenn Täter und Opfer sich kennen. Experten sagen, dass Kinder aus einem sogenannten Mangelmilieu besonders anfällig sind. Mangel bedeutet aber nicht finanzieller Mangel, sondern Mangel an Zeit, Aufmerksamkeit, Zuwendung. In vielen Familien gibt es zum Beispiel keine gemeinsamen Abendessen, keine gemeinsamen Kino-, Zoo- oder Spielplatzbesuche. Täter haben oftmals eine große Gabe, sich sehr subtil einem Kind oder einer Jugendlichen zuzuwenden, indem sie dem Kind viel Zeit widmen, sich um die Kinder kümmern, etwas mit ihnen unternehmen.
Kinder haben von Natur aus ein Grundvertrauen und vertrauen den Menschen dann auch – es kommt ja nicht immer gleich zur Vergewaltigung. Dadurch dauert es manchmal eine recht lange Zeit, bis die Kinder oder Jugendlichen feststellen: Ey, das darf der gar nicht, was der mit mir macht. Manche Täter fotografieren auch gerne erste Übergriffe und sagen dann: Schau mal, du hast doch Spaß gehabt, das war doch toll, als wir da so gesessen und uns umarmt und andere Dinge gemacht haben, du hast doch gelacht!
Zirka 20 Prozent der Täter sind tatsächlich pädophil, bei ihnen ist die gesamte Sexualität nur auf Kinder ausgerichtet. Dafür gibt es aber auch Hilfsangebote in vielen Großstädten Deutschlands, damit Menschen mit dieser Neigung keine Täter werden. Weitere 20 Prozent sind eine Mischung aus Pädophilen und Gewalttätern und 60 Prozent sind reine Gewalttäter. Die wollen also ihre Macht gegenüber Kindern ausüben und die Kinder gefügig machen.
Schalten Sie die Polizei ein, wenn Sie von einem Fall erfahren?
Nein. Für uns ist das Wichtigste, Kind und Täter zu trennen, vor allem, wenn es sich um Fälle innerhalb der Familie handelt. Wenn für uns Kindeswohlgefährdung erkennbar ist, setzen wir uns daher mit den Jugendämtern in Verbindung. Eine direkte Zusammenarbeit mit der Polizei würde das Vertrauensverhältnis zu uns gefährden.
Sie arbeiten auch mit Anwälten zusammen, gibt es da einen festen Stab?
Ja, wir haben bundesweit zirka 60 Anwälte, an die wir verweisen. Da arbeiten wir ähnlich wie der Weiße Ring, wir finanzieren die Erstberatungskosten, denn wenn es zu einer Anzeige kommt, übernimmt ohnehin der Staat die ersten Kosten. Von vielen Sozietäten werden wir aber auch unterstützt, sie stellen uns gar keine erste Rechnung aus, aber manche Einzelkämpfer müssen auch ihre Brötchen verdienen. Der anwaltliche Rat für die Betroffenen ist für uns aber wichtig, denn wir selbst sind vornehmlich Sozialpädagogen.
Zurück zur Hotline: die konkrete Hilfe für Kinder
Das Tagesgeschäft des Vereins besteht nicht aus den Schulungen, die dreimal jährlich stattfinden, es liegt in der Arbeit mit den Betroffenen. Vier Therapeutinnen kümmern sich aktuell um 20 Kinder und Jugendliche. Neben klassischer wird auch Musiktherapie eingesetzt. "Parallel bieten wir die stabilisierende Begleitung an", erklärt Falck. "Das bedeutet: Wenn ein Kind nicht gleich eine Therapie benötigt oder meint "Ich habe doch keinen an der Marmel, ich brauche doch keine Therapie" – das hören wir nicht selten –, stellen wir diese Form zur Verfügung. Das macht ein Fachteam, ähnlich wie eine Therapie, aber nicht ganz so intensiv. Für diese Kinder bieten wir im Moment sechs bis acht Plätze an. Davon sind derzeit fünf belegt, die im wöchentlichen oder zweiwöchentlichen Abstand stattfinden, je nach dem, wie oft die Kinder oder Jugendlichen das möchten.
Im Jahr 2022 hat Dunkelziffer 180 "erste persönliche Beratungen" durchgeführt. Zwei große Therapieräume, ein Wartebereich für die Begleitpersonen, ein Raum, der auch für Fortbildungen reicht, sowie ein kleines Besprechungszimmer für Ratsuchende, die für erste Gespräche kommen, bietet dem Team seit dem Umzug 2022 nach Hamburg-Altona neben den Büroräumen genügend Platz dafür.
Die Gestaltung der Finanzen
Auf die Frage, wie der Verein Personal, Schulungen und sonstige Auslagen finanziert, hat Falck eine klare Auskunft. "Dunkelziffer hat seit der Gründung noch nie öffentliche Mittel beantragt. Das war die Philosophie des Grunders Klaus Meyer-Andersen, der damals gesagt hat: 'Wenn ich helfen möchte, möchte ich dazu nicht den Staat um Hilfe bitten, sondern dort ansetzen, wo ich meine, Lücken zu erkennen. Staatliche Lücken, Angebote für Hilfsmaßnahmen, und die möchte ich gerne schließen." Diesem Prinzip folgen wir bis heute. Wir finanzieren uns aus Spenden und gelegentlichen Bußgeldzuweisungen.
Auf die Frage, was Bußgeld zu Bargeld macht, erklärt Falck: "Die Gerichte führen Bußgeldempfängerlisten, in denen wir, so wie etwa auch der Weiße Ring, der Opfer von Kriminalität und Gewalt unterstützt, geführt sind. Man kann sich dort bewerben, muss gemeinnützig sein und dann kann der Richter oder Staatsanwalt mitentscheiden, wohin das Geld aus diesen Einnahmen geht. Die Richtlinien für die davon profitierenden Organisationen sind sehr streng: Das Geld muss exakt für ihren jeweiligen Zweck verwendet werden." So kommt dann nicht nur der Preis für ein Knöllchen einem vernünftigen Zweck zu, sondern auch ein mit einer Geldstrafe und nicht mit Gefängnis belegtes Delikt: Das Geld landet ebenfalls in einem Bußgeldtopf.
Die Aufklärung von Kindern reicht noch weiter
"Wir bieten Kriseninterventionen an", ergänzt Vera Falck, "die auch für Kinder- und Jugendhilfen gelten, seien es Kindergärten, Schulen, Sportvereine, Pfadfinder etc. Wenn es also innerhalb der Einrichtungen zu Übergriffen gekommen ist, oder Kinder und Jugendliche untereinander übergriffig werden, werden wir dorthin gebeten, um erst mal die Situation zu klären und erste Handlungsmöglichkeiten zu klären. Hinzu kommen bei Bedarf Infoveranstaltungen und Elternabende.
Wenn wir mal das Beispiel Schule nehmen, wer ruft dann bei Ihnen an? Eltern, Lehrer, die Direktorin?
Da gibt es eine große Bandbreite, in den Schulen ist es meistens die Beratungslehrerin. Es können aber alle Menschen sein, die einen Missbrauchsverdacht haben oder von einem Missbrauch wissen, Eltern, eine Freundin, die Klassenlehrerin, Pädagogen oder Verwandte, das ist sehr unterschiedlich.
Rufen Sie auch betroffene Kinder an? Wie erreichen Sie die?
Wir bieten Präventionsangebote für alle Altersklassen an. Wir arbeiten zum Beispiel mit der Theaterpädagogischen Werkstatt in Osnabrück zusammen, die bieten zwei Theaterstücke an, für die erste und zweite sowie für die dritte und vierte Klasse. Aus diesen Theaterstücken heraus ist es nicht selten vorgekommen, dass Kinder gesagt haben: Das ist mir doch auch passiert. Und dann von sich aus kommen und sagen: Ist das Missbrauch? Durfte der das? Ich wollte das doch gar nicht. Der oder die hat das einfach gemacht. So kommen dann Kinder direkt zu uns. Das ist der Grundschulbereich.
Wir haben aber auch Präventionsangebote für die weiterführenden Schulen. Dort liegt die besondere Herausforderung in den digitalen Medien, mit denen die Kinder völlig unbedarft umgehen. Dort wird zum Teil pornografisches Material von den Kindern selbst verschickt, weil sie es urkomisch und lustig finden. Und anschließend wenden sie sich dann durchaus an uns und fragen: Was können wir machen? Wie handhaben wir das?
Sie haben erwähnt, dass sexualisierte Gewalt unter Kindern stark zugenommen hat. Wie erklären Sie sich das?
Kinder haben einen oft uneingeschränkten Zugang zu den digitalen Medien, weil sich viele Eltern um den Kinderschutz keine Gedanken machen. Das führt dazu, dass Kinder sich etwa auf dem Schulhof kinderpornografische Fotografien oder Gewaltfilme zuschicken. Das heißt, dass sie unter Umständen oft pornografisches Material sehen, was sie dann unbedarft weiterschicken. Sie wissen nicht, dass das verboten und ab 14 Jahren auch strafbar ist. Aber auch bei Unter-14-Jährigen steht plötzlich die Polizei vor der Tür und informiert die Eltern. Wir befürworten daher, dass auch die digitalen Medien ein Lehrfach in den Schulen sein sollten, um auf diesem Weg Mediensicherheit für Kinder herzustellen.
Was sehen Sie mit dem Blick auf die vergangenen 30 Jahre? Was hat sich verändert?
Was sich verändert hat, ist, dass die Taten viel brutaler und die missbrauchten Kinder immer jünger werden. Es wird inzwischen viel mehr erkannt, aber die Polizei ist gnadenlos unterbesetzt. In Nordrhein-Westfalen wurden in den vergangenen zwei, drei Jahren heftige Kinderpornoringe aufgedeckt, dort wurden Millionen grausamer Bilder gefunden. Und jedes Bild bedeutet einen realen sexuellen Missbrauch. Den Medien haben wir entnommen, dass Herbert Reul, der Innenminister von NRW, daraufhin in seinen Dienststellen richtig aufgestockt hat.