Mit 66 Jahren ist Prof. Dr. Ostendorf als Chefarzt des Hamburger Marienkrankenhauses in den Ruhestand gegangen. Doch das heißt nicht, dass er aufgehört hätte zu arbeiten. Der ehemalige Leiter der Inneren Abteilung hat damals seinen ersten Neustart hingelegt. "Ich habe ein Institut für Präventiv-Medizin gegründet, weil ich noch eine Spezialausbildung gemacht hatte in der Kernspintomographie des Herzens, eine sehr, sehr wichtige Untersuchungstechnik", erzählt der 83-Jährige im Interview mit der Stiftung stern. "Da habe ich noch acht Jahre gearbeitet und dann mit 75 aufgehört, weil mir das mit acht bis zehn Stunden pro Tag zu viel wurde. Dann habe ich in Hamburg die Praxis ohne Grenzen gegründet." Das war der zweite Neustart.
Der Verein Praxis ohne Grenzen versorgt in Hamburg Menschen ohne Krankenversicherung, Deutsche wie Ausländer, Frauen wie Männer und Kinder. "Inzwischen sind wir eine Gruppe von 55 Ärzten, 25 Krankenschwestern und MTAs sowie zehn weiteren Personen, davon zwei Dolmetscher, Sozialarbeiterinnen, Sekretärinnen und unten ein Sicherheitsbeamter, der dafür sorgt, dass das mit rund 150 Patienten pro Sprechstunde einigermaßen geordnet abläuft", sagt Ostendorf. "Unten" heißt, dass die Praxis nicht nur an Personal ("Die sind alle in Rente und machen das ehrenamtlich!") in den vergangenen fast zehn Jahren gewachsen ist, sondern auch in der Fläche. Ostendorf hat dazu diesen Verein gegründet, damit er Spenden akquirieren kann. "Es gibt acht bis zehn Stiftungen, die ich regelmäßig anschreibe, wobei ich besonders hervorheben möchte, dass es zu Anfang die Reich-Stiftung war, die uns mit einer halben Million unterstützt hat, dass wir uns von drei Zimmern in dem alten Bauerberg-Seniorenheim in Horn auf zwölf Zimmer über drei Stockwerke in Eidelstedt erweitern konnten", sagt er.
Doch was treibt den Arzt an? Wir haben nachgefragt.
Sie wollen einfach nicht in den Ruhestand gehen, oder?
Ich will nach vorne schauend etwas mit meinem Leben machen. Und nachdem ich durch das Medizinstudium, meine ganze Ausbildung und die Tätigkeit später so viele Vorteile von der Gesellschaft bekommen hatte, habe ich mit 75 Jahren gedacht: Jetzt muss ich und will ich etwas zurückgeben. Und das ist mit diesem Projekt idealerweise möglich.
Am 9.12.2021 wird die Verleihung des HanseMerkur Preises für Kinderschutz veröffentlicht. Was ist das für ein Preis und warum erhalten Sie ihn?
Wir bekommen den Preis für zwei Sachen: In der Praxis betreuen wir zehn verschiedene Fachrichtungen, Innere Medizin, HNO, Augen, Zähne und so weiter. Und eine sehr bedeutende Unterabteilung ist die Kinderheilkunde. Die Kindersprechstunde wird von Frau Dr. Schulz, die von Anfang an dabei ist, und von Prof. Riedel, ehemaliger Chefarzt im Kinderkrankenhaus Altona, geleitet. Sie hat eine ganz besondere Bedeutung, weil es sonst in der gesamten norddeutschen Region keine Kindersprechstunde für unversicherte Kinder gibt.
Zudem bemühe ich mich darum, für alle unversicherten Kinder in Deutschland bis zum 16. Lebensjahr automatisch einen gesetzlichen Krankenversicherungsschutz zu bekommen. Wir haben ein großes Gutachten von einem ehemaligen Richter des Bundessozialgerichtes erstellen lassen, der in der Kammer Gesetzliche Krankenversicherung der Vorsitzende war. Dieses Gutachten besagt, dass das gut möglich ist. Mit den zwei Punkten haben wir uns bei der HanseMerkur beworben und den Hauptpreis bekommen.
Ist der HanseMerkur-Preis mit Geld dotiert?
Ja, der Hauptpreis mit 20.000 Euro.
Ist das für Sie nur einen Tropfen auf den heißen Stein?
Nein, das ist schon etwas mehr als das! Wir haben derzeit eine Etatgröße von 200.000 bis 250.000 Euro pro Jahr.

Sind das Miet- und Verwaltungskosten für Ihre dreigeschossige Praxis in Hamburg-Eidelstedt? Die Mitarbeiter arbeiten ja alle ehrenamtlich.
Die Personalkosten sind null. Was wir bezahlen müssen, sind die von Ihnen genannten Basiskosten, zu denen auch Telefon und Reinigung etc. hinzukommen. Dann Medikamentenkosten zwischen 50.000 und 60.000 Euro. Und was uns finanziell besonders bedrückt, sind Operationen und ausgesprochen teure Behandlungen wie zum Beispiel Chemo- und Strahlentherapien. Wir hatten jetzt einen 51-jährigen Patienten aus Ghana, der brauchte eine neue Herzklappe, das kostet auch sofort wieder 20.000 Euro. Und wenn da drei, vier Fälle zusammenkommen, wissen wir, dass wir 100.000 schon wieder los sind.
Freuen Sie sich darüber, dass Karl Lauterbach Gesundheitsminister geworden ist?
Ich glaube, dass das ein sehr konsequenter Gesundheitsmediziner ist, und dass er gerade jetzt, in der konkreten Situation der Corona-Pandemie, mit seinen Kenntnissen zu den ganzen Modellierungen, die eine so große Rolle spielen für die Entscheidungsfindung, der gute Mann dafür ist.
Glauben Sie, dass er auch Ihrer Praxis weiterhelfen kann?
Wenn er möchte, kann er das gerne tun. Ich weiß aber nicht, ob er das im Moment auf dem Schirm hat. Ich werde mich sicherlich, wenn jetzt die akute Phase der Einarbeitung vorbei ist, bei ihm mal melden und ihn fragen, ob er uns gerade zu dem Punkt Kinderversicherung für alle deutschen und ausländischen Kinder, die unversichert hier in Deutschland herumlaufen, behilflich sein kann. Ich werde mich an ihn wenden.
Wie aktiv sind Sie in der Politik?
Das bin ich eigentlich gar nicht. Kann ich auch gar nicht, will ich auch nicht. Ich bemühe mich, mich dort einzubringen, wo ich politisch was will. Das Wichtigste ist, dass wir damals in Hamburg keinerlei Probleme hatten, die Praxis zu gründen. Dass wir einen guten Kontakt zur Sozialbehörde und zur Clearingstelle haben – insbesondere auch in Verbindung mit meiner Sozialmitarbeiterin Frau Weichenthal. Und das Zweite ist, dass wir politisch mithilfe von Vorstandsmitgliedern der Praxis ohne Grenzen und auch eigener Initiative versuchen durchzusetzen, dass die Politik sich dieses Problems annimmt. Wir geben 380 Milliarden in der Bundesrepublik für die Gesundheit aus, da müssten ein paar Hunderttausend für diese Kinder möglich sein.
All Ihre Ärzte und Ärztinnen sind bereits im Ruhestand. Wie haben Sie sie rekrutiert?
Die melden sich spontan. Für die Zahnärzte haben wir einmal in einem Zahnärztekammer-Heft einen Aufruf gemacht, wie bräuchten einen Zahnarzt, aber ansonsten melden die sich alle spontan. Wir haben jetzt schon wieder eine Warteliste von Ärzten, die gerne bei uns arbeiten wollen. Heute kam schon wieder eine Anfrage von einer Krankenschwester. Wir rekrutieren uns über den Ruf, den die Praxis mittlerweile hat, sodass viele da mitmachen möchten.
Haben Ärzte, Krankenschwestern und Co ein Helfersyndrom?
Nein. Die wollen alle noch ein bisschen was tun. Wie die Frau eines Arztes mal gesagt hat: "Ich bin so froh, dass er jetzt bei Ihnen arbeitet. Er liest jetzt wieder die Literatur, er kümmert sich wieder um die neuesten medizinischen Entwicklungen." Wir wollen ja alle nicht nur zu Hause im Sessel sitzen. Wir arbeiten hier absolut ohne Hierarchien, wir arbeiten kollegial zusammen. Und wenn da drei Internisten sind und jeder hat sein Spezialgebiet, dann setzt man sich zusammen und beschließt gemeinsam oder unterrichtet sich gegenseitig. Das ist wunderbar. Einer hat gesagt: "So habe ich mir das immer vorgestellt."
Ist das also jetzt erst der erfüllende Beruf, weil man nicht mehr aufs Geld schauen muss?
Ja, man muss nicht abrechnen, man muss gar nicht darauf achten, wie lange man den Patienten bei sich hat. Alles, was nötig ist, wird gemacht, aber was nicht nötig ist, unterlassen. Sonst steigt man in einen Grauzonen-Bereich und sagt, jetzt machen wir doch noch mal eine Sonographie oder eine Echo. Wenn diese Untersuchungen bei uns nötig sind, werden sie gemacht und dann haben wir auch keine Kontingentierung, dass wir in einem Vierteljahr nur so und so viel Sonos oder Echos machen dürfen.
Seinen Traumberuf als Arzt kann man also erst nach der Verrentung in Ihrer Praxis beginnen?
Das ist jetzt etwas überspitzt gesagt, aber es trifft zum Teil den Tatbestand, da haben Sie Recht.
Wie mühsam ist Ihr Geschäft?
Das Mühsame ist nicht die medizinische Seite, sondern die notwendigen Finanzmittel über Stiftungen oder Spenden hereinzubekommen. Aber auch das lässt sich machen.
Schaffen Sie es bislang, die Praxis zu finanzieren, oder müssen Sie auch mit Ihrem privaten Geld einsteigen?
Nein, wir haben es bislang immer geschafft und wenn es droht, nicht zu klappen, machen wir auch immer mal wieder einen Aufruf. Wir sprechen dann die Stiftungen an und die helfen, wenn sie merken, dass wir keinen Grund mehr in unserer Kasse haben. Die sind da sehr hilfsbereit. Bisher sind wir mit den Stiftungen, die uns im Fokus habe, sehr zufrieden.
Welches Schicksal ist Ihnen kürzlich nahegegangen und hat Sie stolz auf Ihre Praxis gemacht?
Wir haben eine Familie aus Mazedonien, da lebte die Großmutter mit einer Tochter, Schwiegersohn und zwei Enkelkindern auf 16 Quadratmetern in einem Zimmer hier in Hamburg. Die Matratze hat fast das ganze Zimmer ausgefüllt. Die Großmutter kriegte ein hochmalignes Hirntumorgeschehen, ein ganz hochaggressiver Tumor. Die Familie konnte es nicht mehr aushalten, dass die beiden Kinder, sechs- und neunjährig, mit der sterbenden Großmutter in einem Zimmer leben. Dann haben wir erreicht, dass sie in eine Palliativstation aufgenommen werden konnte, aber dafür müssen wir 430 Euro pro Tag bezahlen. Aber das hat eine Stiftung sofort – außerhalb des normalen Ablaufs – übernommen. Und da war ich sehr glücklich, dass sie dort erstmal bleiben kann. Die Familie ist extrem entlastet, sie kümmert sich liebevoll um diese Großmutter in der Hospitalisierungsphase und der Großmutter geht es besser, weil sie weiß, dass sie die Kinder und insbesondere die Enkelkinder nicht mehr belastet. Das war wunderbar zu erleben.
Eine letzte, vielleicht unangenehme Frage: Haben Sie einen Zeitpunkt im Kopf, an dem Sie vielleicht aufhören möchten?
Nein, bislang nicht. Ich fühle mich gesund, aber ich weiß natürlich in meinem Alter, dass man das nicht ohne irgendeine Rückendeckung machen darf. Deswegen bemühe ich mich jetzt sehr intensiv darum, eine Übergabe zu erreichen. Ich habe schon zwei Stellvertreter hier und halte jetzt nach einer Person Ausschau, die das Ganze auch leiten könnte. Da sind die ersten Gespräche in Gang. Ich lebe nicht in den blauen Himmel hinein, aber momentan fühle ich mich so, dass ich das noch gut machen kann.
Die Sprechstunde der Praxis ohne Grenzen in der Fangdieckstraße 53, 22547 Hamburg, ist mittwochs 12–15 Uhr Kinderärzte, 15–17 Uhr Hautärzte, 14–17 Uhr übrige Fachgruppen.