Über Geld spricht man nicht - daran hält sich auch Rainer Engel für gewöhnlich. Der studierte Grafikdesigner aus Berlin will sich eine Eigentumswohnung kaufen. Rund 100.000 Euro müsste er für ein Apartment nach seinem Geschmack hinblättern. Ein wenig hat er gespart, für den Rest braucht Engel Kredit. Das könnte schon bald ein tückenreiches Abenteuer für den 35-Jährigen werden. Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit stecken die Banken bei der Kreditvergabe mitten in einer der größten Umstrukturierungen seit Jahrzehnten. Die Folgen wird jeder Kunde zu spüren bekommen: Ähnlich wie heute schon große Unternehmen, sollen künftig auch Privatleute durch eine Risikobewertung laufen. Je geringer das Risiko, desto günstiger wird der Kreditzins.
Es droht die
neue Klassengesellschaft: Wer hat, dem wird günstig gegeben - wer nicht so rosig dasteht, bekommt Kredite nur noch zu deutlich erhöhten Sätzen. Das System, das im Laufe des kommenden Jahres schleichend von vielen Banken eingeführt wird, ist eine Folge der internationalen Abmachung »Basel II«. So nennen Finanzprofis die neuen Kreditvergabevorschriften, an die sich von 2006 an auch die deutsche Geldindustrie halten muss. Der Grundgedanke: Banken sollen genauer als bisher begründen, warum sie eine bestimmte Summe Geldes zu bestimmten Bedingungen verliehen haben. Was harmlos klingt, versetzt den gesamten deutschen Mittelstand in Aufruhr: Viele kleine Handwerker fürchten um ihre Existenz, wenn die Banken den Kredithahn zudrehen.
Auch Privatkunden
müssen sich umstellen. »Viele Kreditinstitute werden sich über den Kunden detaillierter und vor allem systematischer informieren«, als das heute der Fall sei, sagt Oliver Struck von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Künftig werde eine Kreditanfrage oft nicht nur mit Ja oder Nein beantwortet, sondern mit »Ja, aber zu folgenden individuellen Konditionen«. Neue Computerprogramme, gefüttert mit einer Vielzahl von Informationen, spucken künftig einen individuellen Bonitätswert für jeden Kunden aus. Der dient als Basis für das individuelle Zinsangebot. Also auch bei Rainer Engel. Der Grafikdesigner arbeitet freiberuflich, teilt sich mit einem Kollegen ein kleines Atelier. Seine Umsätze schwanken von Monat zu Monat. Verglichen mit einer Bekannten Engels, einer beamteten Lehrerin, nicht gerade ein Pluspunkt beim Geldausleihen. Auch wenn die anderen Merkmale der beiden übereinstimmen - Mitte 30, ledig, keine Kinder, kein Auto, kein belastender Schufa-Eintrag -, dürfte der Zins künftig ganz verschieden ausfallen.
Je nach Klassifizierung
sind Schwankungen von mehreren Prozentpunkten möglich. Wie groß die Ungleichbehandlung der Kunden in Zukunft sein wird, weiß noch niemand. »Abhängig ist das von der Struktur und Gewichtung der gesammelten Antragsdaten sowie der gestellten Sicherheiten«, sagt Christoph Carstens, Leiter des Bereichs Kreditrisikosystme bei der Deutschen Genossenschafts-Hypothekenbank (DG Hyp). »Während sich die Banken bei Freiberuflern zugeknöpft geben, wird dem Lehrerehepaar das Geld quasi hinterhergeworfen«, fürchtet Christian Schmid-Burgk, Baufinanzierungsexperte bei der Verbraucherzentrale Hamburg.
Der Aufwand für die Kreditvergabe ist gewaltig. Die DG Hyp etwa will rund 80 Einzelposten von jedem Kunden erfragen. Darunter sind neben Selbstverständlichkeiten wie Einkommen oder Zahl der Kinder so skurrile Faktoren wie die Ausländerdichte im Wohnumfeld des Kreditantragstellers oder der Straßentyp oder die Anzahl und Größe der Autos - alles Kriterien, die dem Einzelnen angerechnet werden. Jeder Faktor fließt mit einem unterschiedlichen Gewicht in die vollautomatische Berechnung des Risikos ein. Carstens: »Geringere finanzielle Möglichkeiten oder eine risikoreichere Berufsgruppe beziehungsweise Branche wie etwa Bauwirtschaft oder Kunstgewerbe kann durch andere Faktoren wie zum Beispiel die Güte der Immobilie ausgeglichen werden.« Dabei geht jedes Kreditinstitut anders vor: Den einen ist der Beruf wichtiger, anderen die Qualität des Grundbesitzes oder das Einkommen, dritten wiederum das Eigenkapital oder die Familiensituation.
Wer künftig
bei seiner Bank nachfragt, wie es zu dem errechneten Zinssatz kommt, wird in der Regel Schweigen ernten. Die Methoden gelten als »Geschäftsinterna«, niemand will verraten, welche Kreditkundenstruktur er hat. Die Kunden sind die Dummen. »So gläsern der Verbraucher für die einzelne Bank wird, so undurchsichtig bleiben für ihn die neuen Computerverfahren«, kritisiert Thomas Bieler von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Er fordert, dass »der Kunde informiert werden muss, wo seine Schwachpunkte bei der Kreditwürdigkeit liegen«. Nur so könne er sich verbessern - und in manchen Fällen vielleicht sogar einsehen, dass ein Kredit viel zu riskant ist. Und: »Verringern sich im Laufe der Zeit die Risiken, weil lange und pünktlich getilgt wurde oder die Immobilie im Wert steigt, müsste der Zins günstiger werden.«
Auf solche Ideen
reagieren die Banker bestenfalls diplomatisch: Der Markt werde zeigen, welche Informationspolitik bei der neuen Kreditvergabe sinnvoll ist, heißt es nebulös. Wie künftig tatsächlich von Bank zu Bank mit Zins und Risiko hantiert wird, ist offen. Viel lieber verweisen die Geldverleiher auf die Vorteile der neuen Spielregeln: Bisher wurden maue Kredite von gut laufenden Darlehen mitfinanziert. Zahlungskräftige Kunden ermöglichten so schwächeren Kreditnehmern günstige Konditionen. »Damit wird grundsätzlich Schluss sein«, sagt Christoph Carstens von der DG Hyp. Für bonitätsstarke Kunden mit wirtschaftlich guten Investitionsvorhaben könnten Kredite also künftig billiger werden.
Das ist schön
für die reichen Kunden, nicht so schön für die, die sich ohnehin schon nach der Decke strecken müssen - aus Sicht der Banken aber beruhigend: Die Kreditbranche steckt in einer tiefen Krise, selbst den Großbanken machen faule Kredite, vielfach durch Missmanagement verursacht, schwer zu schaffen. Verbraucherschützer Bieler kritisiert denn auch die Banken: »Mittelständlern und Privatkunden schon heute mit dem Basel-Argument höhere Zinsen abzuknöpfen oder Darlehen zu verweigern ist eher ein vorgeschobener Popanz.«
Für die Kunden bedeutet die neue Kreditpolitik, dass sie künftig bei verschiedenen Banken Angebote einholen müssen. Und dass man in Zukunft wohl noch weniger über die eigene Kreditrate reden wird - gibt sie doch Auskunft über die Bonität. Wie sagt ein hochrangiger Bankmanager reichlich süffisant: »Eine solide Haushaltsführung des Privatkunden wird sich immer positiv bemerkbar machen.«
Frank Donovitz/ Joachim Reuter