Elisabeth Löwenstein stand am Fenster ihres Arbeitszimmers und blickte auf die Garageneinfahrt. Wo blieben sie nur? Heute war schließlich ihr 75. Geburtstag! Jede Minute erschien ihr in letzter Zeit kostbar. Wer weiß, wie viel Zeit ihr noch blieb? Vielleicht hatte ihr Ältester, Wolfgang, ja recht. Sie sollte endlich ihr Testament aufsetzen. Aber erst einmal musste sie diesen Tag überstehen. Wie sie Unpünktlichkeit hasste! Eine der vielen Formen von Rücksichtslosigkeit. Disziplin war ihr stets das Wichtigste gewesen, denn die hatte ihr im Leben Brücken über so manche schwarze Schlucht gebaut. Vor allem als ihr Heinrich starb, mit 43 Jahren. "Dr. Ohnesorg", wie sie ihn aufzog, weil er viel zu oft bei seinen Patienten im Röntgenraum blieb. "An mir perlt alles ab", war seine Antwort. Da hatte sich der Krebs schon in ihm festgebissen. Mit drei halbwüchsigen Kindern hatte sie dagestanden, Tag für Tag in ihrer kleinen Apotheke. Nacht-Notdienste, den Kindern im Hinterzimmer zu Mittag gekocht, die Abrechnungen. Die Geschäfte liefen ausgezeichnet, dank der Idee, Medikamente nach Hause zu liefern. Von einer Assistentin in Weiß mit einem offenen Ohr für die vielen Einsamen.
Elisabeth Löwenstein war stolz auf ihr Lebenswerk. Aus dem Nichts hatte sie ein kleines Vermögen geschaffen, mit Hand und Köpfchen. "Am Gelde hängt, zum Gelde drängt doch alles", sprach sie zu Heinrichs Foto und setzte sich an ihren Mahagonischreibtisch. "Da klebt ja noch Papageienscheiße dran", wie ihr Sohn Dietmar immer lästerte. Sie überlegte kurz, ob sie den PC anwerfen sollte, griff dann zu Füller und Papier. "Mein Testament." Sie erschrak. Das las sich, als ob sie tot wäre! Sie stellte sich ihre Söhne im Büro des Notars vor. Wolfgang gefasst. Dietmar aufgelöst. David, falls anwesend, mit seinem Handy beschäftigt. "Meinen gesamten Schmuck vermache ich der Frau meines ältesten Sohnes Wolfgang, Denise. Sie ist die Einzige in der Familie, welche die Klasse besitzt, die man für ihn braucht, denn sie hat Geschmack, Humor und Verstand. Denise, ich gehe davon aus, dass Du den Schmuck an meine entzückenden Enkelinnen Pauline und Babette weitergibst. Dietmar, Du hast ja immer gesagt, an meinen "Klunkern" klebe das Blut afrikanischer Kindersklaven. Also will ich Dich damit nicht belasten und Deine "Lebensabschnittsbegleiterin" Silke: Nun, ehrlich gesagt, würde sie mit diesen bestenfalls aussehen wie ein vertrockneter Weihnachtsbaum."
Elisabeth Löwenstein strich sich eine ihrer rot getönten Haarsträhnen aus der Stirn. Die unangenehme Aufgabe begann sich als sehr angenehme herauszustellen. "Eine Million Euro meines Geldvermögens vermache ich zu gleichen Teilen meinen Söhnen Wolfgang, von Beruf Richter, wohnhaft in Frankfurt, und Dietmar, Sozialarbeiter, wohnhaft in Berlin. Die restlichen 250 000 sind für David Löwenstein, geboren am 25. 6. 1966, von Beruf Investmentbanker, wohnhaft in London. Der Einzige von euch, der meinen Geschäftssinn geerbt hat und deshalb am wenigsten auf mein Geld angewiesen ist. Wolfgang soll das Geld verwalten, bis David endlich heiratet: Eine Frau über 25, die mehr im Kopf hat als alle Deine bisherigen blutjungen Dinger zusammen, David! Der kleine Picasso geht..." - Ach! Den würde sie am liebsten mit ins Grab nehmen.
Motorengeräusche in der Einfahrt ließen Elisabeth Löwenstein hochschrecken. Sie sprang auf und eilte zum Fenster. Ihr Nesthäkchen David sprang aus einem einschüchternd großen Geländewagen. Dahinter kam Wolfgangs Familienvan mit Denise und den Kindern zum Stehen. Dahinter Dietmar mit seiner schrecklichen sächselnden Krankenschwester Silke. Elisabeth Löwenstein legte das begonnene Testament in die oberste Schreibtischschublade und ging zur Haustür. Wolfgang hob das Glas. "Auf Mutter! Gesundheit und noch einige glückliche Jahre!"
"Wie viele hast du mir denn noch zugedacht?" "Oma, wie alt wirst du jetzt?", fragte Babette. "Mein Kind, eine Dame hat kein Alter!", sagte Elisabeth Löwenstein. "Cool! Aber, wenn du nicht alt wirst, wann stirbst du dann?" "Warum brunchen wir eigentlich dieses Jahr nicht wie sonst im Parkhotel?", fragte David und löffelte eine Jakobsmuschel in seinen Mund. "Warum dieses Catering?" "Es ist doch viel schöner, wir sind entre nous, findest du nicht?", entgegnete seine Mutter. "Ach, ich dachte, das ist wegen ihrer Inkontinenz...", raunte Silke. "Silke! Bitte!" zischelte Wolfgang. "Silkee!", äffte ihn Dietmar nach. "Tu doch nicht so verklemmt! Ich dachte, ihr Richter legt so viel Wert auf die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, so wahr mir Gott helfe." "Mama, was ist das, was Oma hat: Ingondinens?", fragte Babette. "Entschuldigt mich einen Moment." Elisabeth Löwenstein flüchtete in ihr Schlafzimmer. Luft! Luft! Ihre Angina Pectoris meldete sich doch nicht ausgerechnet heute? Sie riss das Fenster auf, legte sich auf ihr Bett und schloss die Augen. Sie dachte an Bernhard. Vor neun Jahren hatten sie sich auf einer Nil-Kreuzfahrt kennengelernt. "Ich bin Junggeselle, und zwar überzeugter!", hatte der pensionierte Griechischlehrer sich vorgestellt. Seitdem zeigte er ihr - zusammen mit Studiosus - die Welt. Die Tatsache, dass sie beide unabhängig waren, auch voneinander, hatte ihre Beziehung zu einer Art Amour fou anwachsen lassen, falls man in ihrem Alter überhaupt von so was sprechen konnte. Langsam, fühlte sie, ließen die eisernen Klammern ihr Herz wieder los.
Die Tür öffnete sich einen Spalt. "Geht es dir besser, Mutter?" "Wolfgang! Komm rein!" "Darf ich dich was fragen?" Wolfgang schloss die Tür und setzte sich auf den Bettrand. "Raus damit..." "Ich wollte, äh, also, du bist ja nicht mehr die Jüngste..." "Oh, wie charmant!" "Nein, du siehst natürlich wie immer fabelhaft aus..." "Und deshalb?" "Mutter, hast du eigentlich schon dein Testament gemacht?" Elisabeth Löwenstein setzte sich auf. "Kannst du's nicht abwarten? Bin ich dir so lästig?" "N-n-nein! Mu-mu-mutter!" Wie süß er war, wenn er stotterte, dachte Elisabeth Löwenstein. "Zerbrich dir bitte nicht meinen Kopf", sagte sie und hob ihre Beine aus dem Bett. "Du bist ja fast so schlimm wie Silke. Denkt die etwa, ich sehe nicht, wie sie mit ihrem Beuteblick meine Tiffanygläser taxiert?" Wolfgang kicherte.
"Und jetzt: Reich mir die Hand, mein Leben...", trällerte Elisabeth Löwenstein und ließ sich von ihrem Ältesten aufhelfen. "Auf in den Kampf!" "Na Mutter, wie war das Tête-à-Tête mit dem Erbschleicher?", höhnte Dietmar, als sie das Wohnzimmer betraten. Sein teigiges Gesicht hatte ungefähr die Farbe des Rosé angenommen, von dem er offensichtlich bereits einiges in sich hineingeschüttet hatte. "Außer dir kenne ich jedenfalls keinen Sozialarbeiter, der mit der E-Klasse bei seiner "Kundschaft" vorfährt", erwiderte Wolfgang. "Und wer weiß, was unser armes Didilein unserer Mutter sonst noch so aus den Hüften geleiert hat..." "Schick doch deine Bullen mit einem Durchsuchungsbefehl, dann weißt du's!" "Könntet ihr so rücksichtsvoll sein", sagte Elisabeth Löwenstein, "wenigstens an meinem Geburtstag eure Rivalitäten zu unterdrücken? Ich werde jetzt eure Geschenke auspacken." Sie griff zu dem Päckchen, von dem sie am wenigsten erwartete, unangenehm überrascht zu werden. "Denise!", rief sie. "Die Pflegeserie zu meinem Lieblingsparfüm! Du verwöhnst mich mal wieder! Herzlichsten Dank!"
Psychologie
Wie sag ich's meinen Eltern?
Fünf Tipps für den richtigen Einstieg in ein Gespräch über den Erbfall
1) Eigene Bedürfnisse herausfiltern
Müssen Sie dringend finanzielle Löcher stopfen oder möchten Sie endlich Ihren Lebenstraum realisieren? Fürchten Sie, als raffgierig zu gelten, oder fordern Sie nur, was Ihnen zusteht? Bringen Sie zuerst Klarheit in Ihren aktuellen Gefühlshaushalt. Prüfen Sie nun, wie sehr das Thema für Sie wirklich "dran" ist. Welche Botschaft haben Sie für Ihre Eltern? Was wollen Sie mindestens erreichen?
2) Stabile Bündnisse eingehen
Vertrauen Sie sich Ihrem Lebenspartner an und hören Sie auf dessen Rat. Werten Sie vorhandene Erfahrungen enger Freunde aus. Erkunden Sie sorgfältig die Stimmungslage Ihrer Geschwister. Nutzen Sie jede Begegnung dafür, einander näherzukommen. Arbeiten Sie gemeinsame Interessen heraus und schärfen Sie Ihre Toleranz für abweichende Meinungen.
3) Die Ängste der Eltern ausloten
Was wissen Sie und Ihre Miterben sicher darüber, was sind bisher nur Vermutungen? Welche Tochter, welcher Sohn fühlt am besten behutsam bei Mutter und Vater nach? Meist soll der überlebende Partner zunächst Alleinerbe sein. Wäre dies für jedes Kind okay? Oft befürchten Eltern, dass sich die Kinder über das Erbe zerstreiten. Kann es bei Ihnen dafür Gründe geben?
4) Den geeigneten Rahmen schaffen
Vereinbaren Sie mit Ihren Geschwistern eine gemeinsame Gesprächsstrategie und eine ruhige Umgebung ohne Ablenkungen. Wählen Sie denjenigen zum Sprecher, auf den die Eltern am besten hören. Laden Sie beide mit einem persönlichen, achtsamen Brief zu einer Aussprache ein. Machen Sie ganz deutlich, wie sehr Ihnen allen die Zukunft Ihrer Eltern am Herzen liegt.
5) Auf gleiche Augenhöhe kommen
Je ehrlicher Sie mit den Sorgen und Hoffnungen der Eltern umgehen, desto besser können Sie deren Ängste zähmen. Sichern Sie die maximal leistbare Unterstützung im Pflegefall zu. Sprechen Sie als künftige Erben mit einer Stimme. Treten Sie nicht als Bittsteller auf, doch werden Sie keinesfalls dreist. Berücksichtigen Sie ernsthafte Einwände, aber lassen Sie sich nicht abwimmeln.
Zusammengestellt von Horst Nosofsky, Diplom-Psychologe und Vermögensberater
Sie nahm das Geschenk mit der aufwendigsten Verpackung. Zum Vorschein kam ein schweres handtellergroßes Döschen aus massivem Silber. Neugierig öffnete sie es. Leer! "Das neueste Must-Have bei Gucci", sagte David. "Ein Reiseetui für deine Dritten - wo du doch so viel unterwegs bist." "Jetzt bist du wohl völlig durchgeknallt", sagte Wolfgang. "Nein, großer Bruder. Erfolgreich. Neidisch?" "Hast du noch den Kassenzettel?", fragte Elisabeth Löwenstein und wandte sich dem nächsten Päckchen zu. Eine Ansammlung von Reformhaus-Tübchen in Secondhand-Geschenkpapier. "Anti-Falten-Creme. Für die anspruchsvolle, reife Haut", las sie stumm, und: "Unverkäufliches Muster."
"Ach, Didi, das wäre doch nicht nötig gewesen", sagte sie. Das war nun der Dank dafür, dass sie Dietmars halbe Kindheit an seinem Bettrand verbracht hatte. Vor lauter Verwöhnen war sie nicht zum Erziehen gekommen. Sie gab sich einen Ruck und nahm das letzte Päckchen in Angriff. Ein Montblanc und ein Block feinstes Bütten. "Soll ich dir jetzt wieder Briefe schreiben wie früher in deine Studentenbude? Nachdem ausgerechnet du mich zum E-Mailen überredet hast? "Das ist ja so viel schneller, Mutter, und kostet nichts!"", spottete Elisabeth Löwenstein. "Mhm", räusperte sich Wolfgang, "ich dachte eher an ... du weißt schon ... vielleicht dein Testament? Es ist ja nur eine Formalität." "Sag doch einfach, wenn du in der Klemme steckst", murmelte David, während er sein Handy bearbeitete. "Was für ein selbstloses Geschenk!", dröhnte Dietmar." "Du Arschloch!", schrie Wolfgang und kippte ihn mitsamt Stuhl um. Die beiden begannen sich auf dem Boden zu wälzen. "Sofort auseinander!", sagte Elisabeth Löwenstein mit der tiefsten Stimme, die sie hervorholen konnte. Sie setzte sich. "Ihr wollt also unbedingt wissen, wie mein Testament aussieht? Bitte schön: Weil ich nicht will, dass das Geld zwischen euch steht, vermache ich mein gesamtes Geldvermögen einem afrikanischen Frauenförderprojekt." Dietmar und Wolfgang fielen die Kinnladen herunter. "Alles den Nägern! Ich gloob's nich!", stöhnte Silke.
"Diese kleine Studie von Picasso hier", fuhr Elisabeth Löwenstein fort und nahm den Bilderrahmen von der Wand, "geht an..." "Mich!", riefen Wolfgang und Dietmar gleichzeitig. "Besser, wir versilbern ihn und teilen dann. Ich kenne jemand bei Christie's. Den könnte ich schnell anrufen", versuchte David zu vermitteln. "Nur über meine Leiche!", rief Elisabeth Löwenstein, hob das Bild und spießte es mit aller Kraft auf den schweren silbernen Kerzenständer, der in der Tafelmitte stand. Das dünne Glas zersplitterte, die Scherben streuten über die halb vollen Teller. Babette und Pauline krochen vor Schreck unter den Tisch. Elisabeth Löwenstein sank zu Boden und griff an ihr Herz. "Schnell! Mein Spray!", japste sie. Denise bettete den Kopf ihrer Schwiegermutter in ihren Schoß, Wolfgang und Dietmar griffen jeweils eine Hand ihrer Mutter. "In der obersten Schublade meines Schreibtischs", flüsterte Elisabeth Löwenstein. "Silke!", schrie Dietmar, "beweg doch deinen verdammten..."
Silke erhob sich beleidigt und ging ins Arbeitszimmer. Als sie nach dem Spray griff, entdeckte sie direkt daneben das Testament. Sie überflog es hastig. Dann nahm sie das Spray und ging zurück ins Wohnzimmer. "Ich weeß nich, welches Spiel du spielst, liebe Schwiegermutter in schpe, aber für den Angina-Pectoris-Anfall, den du da mimst, bekommste von mir jedenfalls keenen Oscar." Sie warf Wolfgang das Spray zu. "Höchstens einen vertrockneten Weihnachtsbaum", ergänzte sie.
Elisabeth Löwenstein setzte sich auf und lächelte: "Willkommen in der Familie!" Plötzlich brachen alle in Lachen aus. Mehrere Flaschen Bordeaux später, kurz nach 23 Uhr, verabschiedete Elisabeth Löwenstein ihre Gäste endlich - unter fröhlich-lautem Gepolter. Jetzt war es ihr plötzlich zu still. Sie rief Bernhard an. "Na, schön gefeiert?" "Wie geht's meinem Picasso?" "Gut. Und wie geht's deiner Kopie?" "Nicht mehr gut." "Es verlief also alles nach Plan." "Ja, stell dir vor, die wollten tatsächlich nur über mein Testament reden." "Wusstest du, dass das Wort mit ,Testes", lateinisch für Hoden, verwandt ist?" "Ach?", kicherte Elisabeth Löwenstein. "Könntest du mir das bitte anschaulich erklären?" "Schon unterwegs!"