Der G8-Gipfel in Japan hat die Debatte um den Atomausstieg in Deutschland neu entfacht. Auch in Teilen der SPD wird mittlerweile über eine Verlängerung der Laufzeiten unter bestimmten Bedingungen nachgedacht. Die Befürworter bringen vor allem zwei Argumente ins Spiel:
1. Ohne Kernenergie lassen sich die Klimaziele der Bundesregierung kaum realisieren.
2. Deutschland droht eine massive Stromlücke, sollte der Ausstieg wie geplant durchgeführt werden.
Gerade das zweite Argument wurde in den vergangenen Monaten heftig diskutiert. Aber was ist dran am Gespenst Stromlücke? Einer der Auslöser der Debatte war eine Analyse der Deutschen Energieagentur (Dena) vom März 2008. Sie kam zum Schluss, dass Deutschland schon 2012 zu wenige Kraftwerkskapazitäten aufweisen wird, um die Stromnachfrage im eigenen Land zu befriedigen. Die Folge: steigende Strompreise und eine wachsende Gefahr von Stromausfällen.
Auch der geplante Ausbau der regenerativen Energie sowie das Energieeffizienzprogramm der Bundesregierung würden nicht ausreichen, um die wegfallende Kernkraft und die Abschaltung alter Kraftwerke auszugleichen, so das Urteil.
Bis 2020 will die Bundesregierung den Anteil erneuerbarer Energie an der Stromproduktion auf 25 bis 30 Prozent erhöhen - derzeit liegt er bei rund 14 Prozent. Der gesamte Energieverbrauch soll durch Effizienzprogramme bis 2020 um elf Prozent gegenüber dem Jahr 2005 gesenkt werden.
Energieeffizienz reicht nicht
Laut Dena fehlen Deutschland aber trotzdem bis 2020 mindestens 11.700 Megawatt (MW), um den Strombedarf zu decken. Sollte der Stromverbrauch konstant bleiben, werde sich die Stromlücke sogar auf 15.800 MW erhöhen, schätzen die Experten. Der Import von Strom ist nach Ansicht der Dena keine Alternative, da auch die vorhandenen und geplanten europäischen Kapazitäten "ab 2015 nicht ausreichen, um eine verstärkte Nachfrage in Deutschland zu decken".
Die Atom-Befürworter sehen zudem ein weiteres Problem: Windkraft und Solarenergie sind nicht geeignet, ausreichend Grundlast bereitzustellen, weil sie nicht beliebig speicherbar sind. Die Grundlast beschreibt die zu jeder Zeit benötigte Strommenge - bislang kommt fast die Hälfte aus Kernkraftwerken.
Für die Dena ist deshalb klar, dass die Laufzeiten verlängert werden müssen. "Entweder wir akzeptieren den Neubau von Kohle- und Gaskraftwerken oder die bestehenden Kernkraftwerke müssen länger laufen", sagt Dena-Chef Stephan Kohler. Der Atomausstieg sei nicht realisierbar, wenn die Stromlücke nicht geschlossen wird.
Die Studie war natürlich ein gefundenes Fressen für die vier großen Energiekonzerne. Immerhin erwirtschaften sie mit dem mittlerweile vollständig abgeschriebenen Atomkraftwerke täglich Millionen. "Bis zum Jahr 2020 müssen schon jetzt 40.000 Megawatt an Kraftwerkskapazitäten ersetzt werden. Das ist rund ein Drittel der derzeit installierten Gesamtkapazität", argumentiert ein Sprecher des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft im Gespräch mit stern.de. "Aber dafür sind klare politische Bedingungen nötig - die fehlen derzeit."
"Bei den Laufzeiten zu pessimistisch"
Doch ist der Ausstieg in der vorgegebenen Zeit ohne den Bau zusätzlicher Kohlekraftwerke wirklich nicht machbar? Über die Annahmen und Schlussfolgerungen der Dena-Studie wurde heftig gestritten. Insbesondere die These, bis 2020 würden zusätzlich zum Atomausstieg eine Vielzahl weitere Kraftwerke aus Altersgründen vom Netz gehen, wurde scharf kritisiert. Die Deutsche Umwelthilfe warf der Dena vor, die Annahmen genau so gewählt zu haben, dass am Ende die gewünschte Stromlücke auch wirklich herauskommt.
Gerade bei den Laufzeiten der Kraftwerke sei die Dena viel zu pessimistisch, so der Vorwurf. Unterstützung erhält die Organisation von der Bundesnetzagentur. Die Regulierungsbehörde geht in ihrem jährlichen Monitoringbericht davon aus, dass ohne Berücksichtigung des Atomausstiegs lediglich 2400 MW bis 2020 vom Netz gehen werden. Die Stromlücke der Dena wäre unter diesem Annahmen nicht existent.
"Die Lichter gehen nicht aus"
Auch das Bundesumweltamt und das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) können die von der Dena ermittelte Stromlücke nicht bestätigen. "Die Lichter gehen nicht aus, wenn der Ausstiegsfahrplan eingehalten wird", sagte BFS-Chef Wolfram König noch im Februar dieses Jahres. Im vergangenen Jahr sind gleich mehrere Kernkraftwerke nach Störfällen vom Netz gegangen. Trotzdem kam es zu keinem Zeitpunkt zu Problemen mit der Stromversorgung. Die ausgefallenen Kapazitäten entsprachen nach Angaben der BfS der Menge an Atomstrom, der durch den Ausstieg bis 2012 wegfallen soll. Deutschland habe aber trotzdem weiter Strom exportiert.
Das Umweltbundesamt kommt in einer Studie zum Schuss, dass die Versorgungssicherheit beim vorgesehenen Ausstieg aus der Kernenergie nicht gefährdet ist. Neue Kohle- oder Gaskraftwerke seien nicht notwendig. In einem Punkt bleibt jedoch auch das Umweltbundesamt sehr zurückhaltend: der notwendigen Grundlast. Mit dem steigenden Anteil regenerativer Energie würden "in Zukunft technische Konzepte zur Speicherung von Strom eine größere Rolle spielen". Ob dies ausreichen wird, darüber wird weitestgehed geschwiegen.