An jedem zweiten Tag ruft gerade ein Firmenchef aus China bei ihr an, an jedem zweiten Tag. "Frau Sun", sagen viele, "Frau Sun, wir wollen einen Hidden Champion haben!" Einen Weltmarktführer aus der deutschen Provinz. So ein erfolgreiches Familienunternehmen. "Familienunternehmen? Moment!", antwortet Frau Sun dann. "Das müssen Sie sich gut überlegen. Da gibt es oft Tränen."
Aber dann legt sie los und sucht etwas Schönes aus. Ein "target", wie sie sagt. Ein Übernahmeziel. Und sie hat noch immer eines gefunden. Tränen hin, Tränen her.
Es läuft fantastisch für Yi Sun, 41 Jahre alt, Partnerin bei Ernst & Young (EY). Die Beratungsgesellschaft gehört zu den vier umsatzstärksten der Welt. Und Sun ist zuständig für die derzeit umstrittensten aller Geschäfte im Bereich Transaktionsberatung: Übernahmen deutscher Unternehmen durch chinesische Firmen.
Da kann Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel noch so sehr vor einem Ausverkauf deutscher Technologie warnen und anprangern, dass deutsche Unternehmen in China kaum Marktzugang bekämen – die Einkaufstour in Europa geht weiter. Die kommunistische Führung hat nun einmal eine klare Anordnung ausgesprochen. "Schwärmt aus", hieß es 2001 an die Unternehmer. Bald darauf kam es zu den ersten Übernahmen. "Made in China 2025" heißt die neue Industriestrategie. Das Land will vom Billigproduzenten zum Technologieführer werden. Weil die Firmen das so schnell kaum aus eigener Kraft schaffen, muss eben zugekauft werden.
Und irgendwer muss den international oft noch unerfahrenen chinesischen Konzernchefs den Weg zum Target weisen. Wenn man Wissenschaftler, Berater-Konkurrenten, Unternehmer fragt, wer die meisten Chinesen ins Land holt, heißt es häufig: Frau Sun.
"Stimmt", sagt sie. Lächelt. "Ich habe ein bisschen gesundes Selbstbewusstsein." Und wie sie so angerauscht kommt, entschieden stöckelnd, in enger Lederhose, die schwarzen Haare in Wellen über die Schulter fallend, so kann man auch nur sagen: Stimmt.
Da sitzt sie, an diesem sonnigen Wintertag, in der 22. und natürlich obersten Etage der gläsernen EY-Zentrale über Düsseldorf, in einem Konferenzraum. Gabriels gefährlicher Albtraum auf High Heels. "Gefährlich?" , fragt sie. "Ich? Nein. Ich will, dass alle zufrieden sind. Ich bin nur die Dealmakerin."
Das ist es ja. Dass diese Deals 2016 in so großen Ausmaßen geschlossen wurden wie nie zuvor. Für insgesamt elf Milliarden Euro kauften die Chinesen in Deutschland zu, zehnmal so viel wie im Vorjahr.
Allein an zehn Übernahmen mit jeweils mindestens dreistelligem Millionenvolumen war Sun im deutschsprachigen Raum beteiligt. Neben den deutschen Mitarbeitern von EY gehören 45 Chinesen zu ihrem Team. Ihr Honorar kann in die Millionen gehen. In der Branche ist es üblich, dass bei jedem erfolgreichen Deal bis zu fünf Prozent der Kaufsumme an die Berater fließen. Einige Verkäufe, bei denen sie bislang mitgemischt haben: die Offshore-Parks WindMW, zwei Firmen des Müllrecyclers Alba, der Staplerhersteller Kion, der Abfallkonzern EEW.
"Eins meiner größten Probleme derzeit ist, dass oft zwei chinesische Bieter dasselbe deutsche Target kaufen und uns als Berater wollen", sagt Sun. Sie steht jetzt um vier Uhr morgens auf. Da ist es in Peking elf. Wenn geklärt ist, was die Chinesen brauchen, geht sie auf die Suche: spricht mit Finanzinvestoren, ob sie Anteile loswerden wollen; lässt sich von Bankern erzählen, wer auf dem Markt ist; durchforstet Register. Und wenn sie fündig geworden ist, schreibt sie eine Mail: Hallo, ich habe hier einen asiatischen Investor, der gern Ihre Firma kaufen würde.
Sie schreibt auch, wenn das Unternehmen gar nicht zum Verkauf steht. Meist werde sie trotzdem zu einem Gespräch eingeladen, sagt sie, zu groß die Neugier. Dann fährt sie hin. Und versucht, die Welten zueinanderzuführen. "Genau das ist unsere Kunst."
So sieht das aus, wenn die Chinesen kommen
Wenn man Frau Sun begleitet, versteht man, was es eigentlich heißt, wenn die Chinesen kommen. 7.30 Uhr an einem kalten Wintertag im bayerischen Aschaffenburg. Im Gewerbegebiet öffnet ein großer Mann die Tür zu einem kleinen Büro. Oliver Polomsky, Betriebsratschef von Linde Hydraulics, 1300 Mitarbeiter. Sie fertigen hydraulische Antriebe für Mähdrescher, Stapler, Bulldozer. Alles riecht neu, in den Gängen waren Industriedesigner am Werk, glatte Betonwände, wie frisch verputzt. Draußen weht die chinesische Fahne. Die neuen Chefs haben 80 Millionen Euro in neue Maschinen und eine Produktionshalle mit Verwaltungstrakt gesteckt.
In Aschaffenburg heißt das Feindbild nicht "der Chinese", sondern: die Amis. "Goldman Sachs wollte nur schnell Geld verdienen. Rein, raus, fertig, aus" , sagt Polomsky. Den Investmentbankern und Finanzinvestoren von Kohlberg Kravis Roberts & Co. (KKR) hatten sie vorher gehört. Dann, ab 2012, gliederten die Amerikaner die Hydrauliksparte aus der Muttergesellschaft Kion aus und verkauften sie. Es schlug Weichai Power zu, ein Industrieriese mit mehr als 40.000 Mitarbeitern, der Dieselmotoren fertigt, Tochterunternehmen eines Staatskonzerns. Yi Sun war eine der Beraterinnen aufseiten von Weichai. Es war die bis dahin größte chinesische Übernahme in Deutschland: 740 Millionen Euro.
In Weichais Produktpalette fehlten Hydrauliksysteme, und sie wollen von Deutschland aus Europa und Nordamerika beliefern. Für Linde Hydraulics öffnete sich der chinesische Markt. Für Yi Sun das perfekte Paar.
Für Betriebsrat Polomsky zunächst ein Schreck. Jetzt also Chinesen! Aber was blieb den Beschäftigten übrig?
Erste Herausforderung: die Kultur. "China verstehen" hießen die neuen Schulungen. Die Mitarbeiter lernten: Hierarchie ist alles. Der neue Aufsichtsratschef heißt Herr Sun (nicht verwandt mit Frau Sun, "Sun" ist der "Müller" Chinas). In Sitzungen bekommt er immer Teewasser nachgeschenkt, von einem Assistenten. "Das würde bei uns niemandem einfallen", sagt Polomsky. "Die sind ja alt genug und wissen, wie eine Teekanne funktioniert." Die Deutschen wunderten sich.
Die Chinesen wunderten sich während der Tarifverhandlungen. Mitten in der Arbeitszeit liefen die Deutschen hinaus, zogen sich rote Westen über, pfiffen mit Trillerpfeifen. "Wir mussten hinterher erklären, dass das nicht schlimm ist und nicht im Krieg endet", sagt Polomsky. "Der Chinese hat Probleme mit Konflikten."
Das größte Hindernis im Arbeitsalltag ist bei allen Unternehmen die Sprache, sagt Beraterin Sun. Aber immer mal wieder läutet ihr Telefon wegen anderer Verständnisprobleme. Dann erklärt sie etwa einem wütenden chinesischen Boss, dass hierzulande auch leitende Angestellte ihr Handy an Heiligabend kurz ausschalten. Dass er ein bisschen warten müsse, dann werde der Geschäftsführer schon zurückrufen.
Yi Sun hat eine Hälfte ihres bisherigen Lebens in China verbracht – und die andere in Deutschland. Sie lernte schon mit zwölf Jahren in ihrer Heimat Shanghai Deutsch. Mit 20 kam sie zum BWL-Studium hierher und lebt heute mit ihrer 16-jährigen Tochter in Düsseldorf. "Die Deutschen fühlen, dass ich ein Teil von ihnen bin", sagt sie. "Und für die Chinesen bin ich trotzdem keiner dieser Übersee-Chinesen, der zu lange im Ausland war."
Sie pflegt die chinesische Kunst, in Verbindung zu bleiben. Auch mit Herrn Sun von Linde Hydraulics. Und sie versteht ihn, wenn er ihr sagt: "Yi, die Deutschen sind nicht hungrig genug." Er meint, dass seine Vertriebsleute besser verkaufen müssten.
Eine Krise haben die Chinesen und Linde Hydraulics schon überstanden; nach 2014, als die Bauwirtschaft weltweit noch schwächelte, mussten 312 Mitarbeiter gehen. Das wäre auch bei anderen Eignern so gekommen, sagt Betriebsrat Polomsky. Fair hätten sich die Chinesen bislang verhalten, sie haben eine Beschäftigungsgarantie bis Ende 2020 abgegeben. "Wir passen zueinander."
So urteilen viele Betriebsräte. Eine Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung ergab 2014, dass die Chinesen "kooperativer als viele Finanzinvestoren" sind. Es gebe "keine Anzeichen dafür, dass chinesische Investoren Mitbestimmung oder Tarifvertrag nicht anerkennen würden" . Noch weiß aber niemand, was passiert, wenn die Garantien auslaufen, die Gewerkschafter vielerorts erkämpft haben.
Die Erfahrungen aus den allerersten chinesischen Übernahmen dagegen sind schlecht. Als vor zehn Jahren die Investoren unerfahren und mit falschen Vorstellungen nach Deutschland kamen, kauften sie häufig kleine, insolvente Maschinenbauer auf und scheiterten. Sprachbarrieren, ungeeignetes Personal, es gab viele Gründe. "Sie haben daraus gelernt", sagt Beraterin Sun. "Sie lassen die deutschen Manager weiterarbeiten und kaufen fast nur noch gesunde Firmen."
Doch mehr und mehr treten Staatskonzerne als Investoren auf oder Fonds, hinter denen der Staat steckt. Auch Sun sagt, es gebe inzwischen oft "eine Art Wettbewerb" unter den Tochtergesellschaften von Staatsunternehmen, wer zuerst in Europa investiert. Bei vielen Käufern seien zudem die Eigentumsverhältnisse undurchschaubar, analysiert die Bertelsmann Stiftung in einer Studie, "für Außenstehende eine Black Box". Die Angst vor einem Ausverkauf deutscher Zukunftstechnologien an den chinesischen Staat nährten 2016 eine Reihe heikler Nachrichten: die Übernahme des Roboterherstellers Kuka und die Versuche beim Chip-Anlagenbauer Aixtron und beim LED-Spezialisten Osram.
Die Chinesen beteuern, die Deutschen hätten zu viel Angst vor Know-how-Transfer, man könne die Innovationskraft eines Ingenieurs gar nicht einfach so nach Asien exportieren. Noch kann niemand beurteilen, ob sich das als wahr erweisen wird. Auch wenn es also im täglichen Geschäft gerade gut läuft – man weiß vielerorts nicht, was die Investoren langfristig vorhaben.
"Gekommen, um zu bleiben"
Herr Sun sagt: "Wir sind gekommen, um zu bleiben." Man findet ihn in einem Büro mit großem Fenster zum Gang, auf den Regalen chinesische Kalligrafien. Shaojun Sun, 51 Jahre alt, ein Mann der gewählten Worte, ist bei Linde Hydraulics die Schnittstelle nach China.
Die Mitarbeiter kennen ihn fast nur mit einem Assistenten an seiner Seite. Heute sitzt Chencheng Cao neben ihm. Er schreibt jedes Wort mit. Und tatsächlich: Er schenkt Sun immer wieder neues Teewasser nach.
Den Aufsichtsratschef ärgert die Kritik an den Investitionen. "Deutsche machen viel Geld in China. Ich verstehe nicht, warum die deutsche Regierung so sensibel reagiert, wenn jetzt chinesische Unternehmen in Deutschland investieren wollen." Beraterin Yi Sun sagt: "Ich verstehe, dass die deutsche Politik bestimmte Schlüsselindustrien besser schützen will. Aber für viele Unternehmen ist ein chinesischer Investor ein Glücksfall." Sie beide spüren, dass viele das ganz anders sehen, dass die Stimmung angespannter wird.
Schwarze VIP-Shuttlebusse halten vor der Hamburger Handelskammer, Sakkos werden zugeknöpft. 500 Manager und Diplomaten treffen sich an zwei Tagen Ende November zum "Hamburg Summit", der europäisch-chinesischen Wirtschaftskonferenz. Auch der deutsche Außenminister und Chinas Vizepremierministerin sind da. Für Yi Sun einer der wichtigsten Termine im Jahr. "Hier treffe ich die Entscheider."
Es ist eine schwierige Veranstaltung. Sie soll Beziehungen fördern in Zeiten, in denen der deutsche Wirtschaftsminister an Regeln arbeitet, die chinesischen Investoren den Zugang erschweren sollen, und die chinesische Regierung gegen Kapitalflucht kämpft und deswegen Auslandsinvestitionen stärker kontrollieren will.
Yi Sun hat auf dem Podium Platz genommen. Bevor die Diskussion beginnt, bittet der Moderator die Zuhörer um eine Abstimmung per Smartphone. "Denken Sie, dass chinesische Investments eher eine Chance oder ein Risiko für Europa sind?" 40 Prozent wählen: Risiko. So viel Skepsis in einem Saal voller Manager, die ihr Geld verdienen mit der Globalisierung? Raunen in den Reihen.
Yi Sun, heute in konservativem Strickblazer, redet gegen die Bedenken an. Es läuft ganz nach ihren Wünschen. Kein Wunder, Sun hat fast alle Podiumsgäste eingeladen, alles ihre Kunden. Die Veranstalter von der Handelskammer seien dankbar, wenn sie große Namen bringt.
Cunhui Nan zum Beispiel, der Chef des Energiekonzerns Chint, ruft: "Wir bringen keine Ressourcen weg, wir bringen sie hierher!" Jie Guo, die Finanzchefin des Technologiekonzerns Techcent, berichtet, dass sie 2016 schon bei zwei deutschen Unternehmen zugekauft hat. "Und China ist voller Firmen, die kaufen wollen." Yi Sun erzählt, dass die Welt unweigerlich zusammenwachsen werde, es also nichts bringe, sich dem zu verschließen. Weil die Öffentlichkeit jetzt so kritisch ist, rät sie ihren Kunden schon mal, PR-Berater einzuschalten, wenn eine umstrittene Übernahme ansteht.
Drei Wochen später, kurz vor Jahresende in Hamburg. Yi Sun steht im lila Spitzenkleid zwischen Anzugträgern. Sie bestellt einen Cremant, obwohl sie keinen Alkohol trinkt. Die Herren wollen anstoßen. Im "Hafen Klub" unter der Kuppel der Landungsbrücken klingen die Gläser, darunter liegt ein leiser Teppich aus Loungemusik. Draußen leuchten die Hafenkräne in der Nacht.
"Closing Dinner" heißt das Event, wenn alle Verträge perfekt sind. Die chinesische Investmentfirma Hillhouse Capital hat mit Suns Hilfe den Tierfutterhersteller Gimborn aus Emmerich am Rhein gekauft, der zuvor Tschechen gehört hatte. Man munkelt, es sei eine zweistellige Millionensumme geflossen. Die neuen Eigner gelten als verschwiegen. Auch zum Dinner ist niemand eingeflogen, Sun ist die einzige anwesende Chinesin. Es heißt, die Firmenkäufer hätten so schnell kein Visum bekommen.
Für den Gimborn-Manager ist es ein großer Tag. Glücklich sei er, sagt Michael Baumgärtner, von Arbeitsplatzverlagerung keine Rede, alles bleibe beim Alten in Emmerich, nein, besser: "The sky is the limit."
Gimborn produziert Snacks für Katz und Hund. Der neue Eigner hat groß in Tierläden investiert. Der chinesische Markt für Haustierfutter boomt. Der Berater der Tschechen sagt in seiner Rede, bei seiner ersten Chinareise seien Hunde gegessen worden, heute würden sie gepflegt. Welche Entwicklung! Sun lächelt ob der aufgeregten Herren. "Ist nur ein kleiner Deal, aber bis jetzt mein schnellster", sagt sie.
stern-Reporterin Karin Stawski begleitete Yi Sun in Düsseldorf und Hamburg. Dort hatte ein Manager extra seine Assistentin zum Dinner mitgebracht, damit Sun nicht wieder die einzige Frau ist. Patrick Bauer recherchierte in Aschaffenburg.