Interview "Habgier so verbreitet wie nie"

Er will einheitliche Steuern in Europa und greift die Gier nach dem kurzfristigen Profit an. Im stern.de-Interview fordert der ehemalige Daimler-Benz-Chef Edzard Reuter, dass Unternehmer sich nicht dem "Rausch des Schnellen" hingeben sollen. Ein Appell zu seinem 80. Geburtstag.

Herr Reuter, Nokia entlässt in Bochum trotz Gewinnen zahlreiche Mitarbeiter. Macht sich bei Ihnen als Vorreiter eines integrierten Unternehmens nicht Resignation breit, wenn Sie immer wieder solche Nachrichten hören?

Die Sucht, Unternehmenserfolge allein an der Rendite zu messen, hat sich im Zuge der Globalisierung so ausgeweitet, dass sie fast unentrinnbar erscheint. Ich bin aber grundsätzlich Optimist. All solche Entwicklungen - seien sie für die Betroffenen noch so schlimm - werden auch wie Wellen wieder auslaufen. Auf die Dauer werden nur Unternehmen überleben, die mehr zu bieten haben als nur die niedrigsten Kosten und die höchste Rendite für sich selber.

Zur Person

Edzard Reuter war 1987 bis 1995 Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG. Dort trat er ein für eine "offene" Unternehmenskultur - seine Maxime war, dass das Unternehmen "gleichrangig gegenüber den Kapitalgebern, gegenüber der Belegschaft und gegenüber der Umwelt verantwortlich fühlen und danach handeln" müsste. Seit 1946 ist Reutner Mitglied der SPD.

Was wäre dieses Mehr?

Qualität und Verlässlichkeit von Produkten. Billigwaren wird es daneben immer geben. Aber für Produkte aus Europa ist das keine dauerhafte Grundlage. Unternehmen wie Nokia als Hersteller von Qualitätsprodukten - und als solcher gilt man ja bisher - sollten sehr darauf achten, Mitarbeiter zu haben, die sich dort aufgehoben und wohl fühlen. Dazu gehört das Vertrauen, nicht von heute auf morgen rausgeschmissen zu werden. Es sind nämlich die Mitarbeiter und niemand sonst, die mit jedem Handgriff und jeder Idee für die Qualität der Produkte garantieren. Dies zu schätzen und zu honorieren sorgt für ein gutes Betriebsklima. Das wiederum sichert langfristig den Erfolg. Das gilt übrigens nicht nur für einzelne Unternehmen, sondern für die weltweite Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Gesellschaft überhaupt.

Gibt es Unternehmen, die diesen Weg bereits gehen?

Natürlich. Nicht zuletzt sind dies vor allem mittelständische Familienunternehmen. Diese wissen in der Regel schon aus ihrer zumeist langen Tradition heraus genau, dass sie entscheidend von ihrer Belegschaft abhängig sind. Aber natürlich zählen auch einige an der Börse notierte Unternehmen dazu, und ich bleibe zuversichtlich, dass Daimler zu diesen Firmen gehört.

Sie haben von 1987 bis 1995 als Vorstandsvorsitzender bei Daimler versucht, ein solches soziales Unternehmensklima zu schaffen. Was ist Ihnen gelungen, was nicht?

Den Grundgedanken eines integrierten Unternehmens halte ich unverändert für richtig. Damals stand der Begriff allerdings auch noch für einen weiteren Aspekt. Es ging nicht nur um das Unternehmensklima. Vielmehr war es unser Ziel, modernste Hochtechnologie bei uns anzusiedeln, um sicherzustellen, dass unsere Automobile aus der Sicht der Kunden einen deutlichen Wettbewerbsvorsprung haben und so lange wie möglich behalten. Gleichzeitig sollten daraus aber für den Fall, dass die Weltautomobilmärkte eines Tages gesättigt sein würden, behutsam neue Geschäftsfelder entstehen. Nachhaltigkeit und langfristiges Überleben waren damit wichtiger als kurzfristiger Profit. Dabei war es natürlich nichts als selbstverständlich, dass auch unsere Aktiengesellschaft auf das Geld ihrer Aktionäre angewiesen ist und daher eine vernünftige Rendite erwirtschaftet werden muss.

Um die Idee eines integrierten Unternehmens durchzusetzen, braucht es Zeit. Können Unternehmen sich angesichts des Globalisierungsdrucks diese überhaupt nehmen?

In der Tat ist das wohl der Grund, warum viele unserer damaligen Absichten später offenen Auges wieder aufgegeben worden sind. Vor allem haben einige wenige ebenso geld- wie machtgierige Personen die Geduld verloren. Inzwischen scheint sich langsam herumzusprechen, dass wir alles zerstören werden, was Europa bedeutet, wenn wir uns widerstandslos dem einseitigen Druck angeblicher Aktionärsinteressen ausliefern. Der einzigartige Erfolg unserer Kultur beruht in hohem Maße darauf, dass unsere Geschichte uns gelehrt hat, nachzudenken, bevor wir losstürmen. Wir werden unsere daraus entstandene Kreativität nicht erhalten können, wenn wir uns dem Rausch des Schnellen hingeben. Gelingen wird das allerdings auf die Dauer nur, wenn global gültige Regeln durchgesetzt werden, die dafür genügend Spielraum schaffen. Soziale Rücksichtnahme zählt unverzichtbar dazu.

Wie stellen Sie sich diese sozialen Regeln vor?

Es gibt bereits Ansätze verschiedenster Art, die in eine solche Richtung zielen. Ein Beispiel könnte die Harmonisierung der Steuerpolitik in Europa werden. Wenn ich wüsste, dass ich in Rumänien bald die gleichen Steuern zahlen und im Übrigen in überschaubarer Zukunft mit einem ähnlichen Lohnniveau wie hier in Deutschland rechnen muss, dann würde ich sicherlich drei Mal länger überlegen, ob ich meine Fabrik von Bochum nach dort verlagere.

Wie sollte die Politik mit der Spanne von Arm und Reich umgehen, die immer größer wird?

Es besteht tatsächlich die Gefahr, dass diese Entwicklung auf eine Katastrophe für unsere Gesellschaft hinausläuft. Besonders, weil Armut immer mehr Kinder und Jugendliche betrifft. Die Grundeinstellung der deutschen Sozial- und Wirtschaftspolitik war immer, den Einzelnen auch mit staatlicher Hilfe zu Sicherheit in ihrem Leben zu verhelfen. Deswegen ist die Mindestlohndebatte völlig legitim. Ich halte diejenigen nicht für glaubwürdig, die wie bei der Diskussion um die Postboten-Gehälter erzählen, dass damit ganze Wirtschaftszweige ruiniert würden.

Darüber kann ich nur lachen. Die Rede vom Ruck nach Links bedeutet noch lange keinen Wandel der Weltanschauung, sondern ist Wahlkampf und nichts Anderes. Habgier ist heute so verbreitet wie nie zuvor in der Geschichte. Brechts Satz "Erst das Fressen, dann die Moral" aus der Dreigroschenoper zeigt ganz gut, wie wir Menschen sind: die Gier ist uns genauso angeboren wie die Moral zu uns gehört. Zwischen diesen beiden Polen wird es nicht nur in der Wirtschaft immer einen Ringkampf geben.

Interview: Karin Kontny