Lidl Die billige Tour

Der Discounter Lidl wächst rasant - sein Ärger mit den Gewerkschaften auch. Im "Schwarzbuch Lidl" hat die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi jetzt schwere Vorwürfe gegen den Discounter erhoben.

Der Heilbronner Kaufmann Dieter Schwarz ist ein Mann von besonderer Diskretion. Von dem 65-Jährigen heißt es, er habe lieber auf das Bundesverdienstkreuz verzichtet, als den Schutz der Anonymität zu verlassen. Aktuelle Fotos des schwäbischen Milliardärs sucht man vergebens. Auch konkrete Zahlen der Schwarz Unternehmensgruppe, zu der die rund 2500 Lidl-Läden in Deutschland zählen, waren bislang unter Verschluss.

Ausgerechnet Vorwürfe der Gewerkschaft Verdi haben das Unternehmen derart provoziert, dass es nun erstmals Fakten offen legt. Sichtbar wird ein Konzern der Superlative: 151000 Mitarbeiter in 19 Ländern, 36 Milliarden Euro Umsatz, 44 Prozent Wachstum in den letzten drei Jahren - und haufenweise Ärger mit der Gewerkschaft.

Laut Verdi-Chef Frank Bsirske werden bei Lidl "elementare Rechte systematisch verletzt". Pünktlich zum internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember will die Gewerkschaft deshalb das "Schwarz-Buch Lidl" veröffentlichen. Auf rund 100 Seiten präsentiert Autor Andreas Hamann Beispiele aus dem Innenleben eines Konzerns, bei dem "Überwachung der Mitarbeiter, Drill und Hetze" an der Tagesordnung seien.

Geschichten wie die von Christa B.

Neun Jahre arbeitete sie in einer Lidl-Filiale in der Umgebung von Heidelberg. An ihren letzten Arbeitstag, den 22. Oktober 2003, erinnert sie sich noch ganz genau - hinterher musste sie in ärztliche Behandlung. "Am Nachmittag wurde ich in den Aufenthaltsraum zitiert", sagt die 46-Jährige, "und dann ging es los." Vor ihr hätten sich zwei Chefs aus der Gebietszentrale in Speyer aufgebaut und sie beschuldigt, Geld aus der Pfandkasse genommen zu haben. "Da wurde gebrüllt wie im Zoo, ich durfte den Raum nicht verlassen, meinen Mann nicht anrufen - nichts." Obwohl sie mit dem Diebstahl nichts zu tun gehabt habe, unterzeichnete sie einen Vertrag, der das Arbeitsverhältnis beendete. "Ich wollte einfach nur noch raus."

Heilbronn ist überall, sagen die Lidl-Kritiker. Ein Ex-Lidl-Manager erinnert sich, dass es unter Verkaufsleitern einen regelrechten Wettbewerb gegeben habe, wer die meisten Aufhebungsverträge vorweisen konnte. Selbst Lidl räumt ein, dass falsche Beschuldigungen nicht immer ausgeschlossen werden können. Inzwischen sei die Vorgehensweise jedoch geändert worden. Zudem habe der Konzern ei-ne Hotline eingerichtet, bei der sich Mitarbeiter über Vorgesetzte beschweren können. Fragt man Verkäuferinnen nach der Nummer, folgt meist Kopfschütteln.

Die Chefs kennen ihre Mitarbeiter dagegen ganz genau. Die Verkaufsleiter kommen oft frisch von der Uni, gelten als hungrig und aggressiv und düsen per Dienst-Audi A4 durchs Land. Kranke Kollegen werden zuweilen mit Hausbesuchen überrascht. Mindestens einmal pro Woche rücken die jungen Wilden zum Kampf gegen das Verbrechen aus. Rund 250 Millionen Euro gehen der Unternehmensgruppe jährlich durch Diebstahl verloren - neben den Kunden stehen die eigenen Mitarbeiter unter Verdacht. Beim Schichtwechsel werden deshalb mitunter die Taschen von Angestellten gefilzt und die Privatautos inspiziert. Gängige Praxis im Handel, sagt Lidl.

In einigen Filialen

reichen die Kontrollen so weit, dass heimlich Videokameras installiert werden, "allerdings erst", so betont das Unternehmen, "wenn ein absolut konkreter Verdacht gegen einzelne Mitarbeiter vorliegt". Zusätzlich sind die Verkaufsleiter verpflichtet, zweimal pro Monat Frühkontrollen durchzuführen. "Das heißt, man versteckt sich ab sechs Uhr im Auto und guckt, ob die Leute wirklich arbeiten", sagt ein ehemaliger Verkaufsleiter. Und da der Konzern auch seinen Verkaufsleitern offenbar nicht traut, werden gelegentlich die Kontrolleure kontrolliert. Dann stehen zwei Audis vor der Tür.

In internem Schulungsmaterial für den Führungsnachwuchs heißt es: "Sie müssen sich vom Arbeitnehmer zum Arbeitgeber entwickeln, denn Sie werden Ihren Mitarbeitern im wahren Wortsinn Arbeit geben." Und zwar nicht zu knapp.

40 Artikel müssen die Kassiererinnen pro Minute über die Scannerkasse ziehen. "Die Frauen werden schon arg unter Druck gesetzt. Manchmal sitzen die sechs Stunden an der Kasse und können nicht zur Toilette gehen", sagt Markus Jacobi. Noch Anfang Oktober war der 33-Jährige Filialleiter bei Stuttgart. Dann zog er sich beim Verstauen von Waren einen Bandscheibenvorfall zu. Einen Tag nachdem das ärztliche Gutachten vorlag, teilte sein Chef ihm die "Beendigung des befristeten Arbeitsvertrags" mit. Lidl ist sich indes sicher: "Das Betriebsklima ist gut und fair." Mitarbeiterbefragungen zeigten "einen hohen Zufriedenheitsgrad, insbesondere in den Filialen".

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Henryk Hielscher