Wall Street Wenn nur noch ein Doppelter hilft

  • von Sonja Hartwig
Am Abend des schwärzesten Montags seit Jahren lecken die New Yorker Börsianer in den Bars rund um die Wall Street ihre Wunden. Nicht wenige von ihnen scheinen den Schrecken schon vergessen zu haben, bevor der Tag überhaupt vorbei ist.

Dass es so kommen würde, wusste Jay Cintron gleich, als er morgens öffnete. Er sah es an ihrem Gang, der war anders: nicht so dynamisch wie sonst, nicht so geradlinig. Und dann die Art wie sie sprachen, mehr als zwei, drei Sätze waren nicht drin: "Hallo, wie geht's?" "Naja, es ist Montag." Und was für einer: ein schlechter Montag - ein schwarzer Montag. Der schwärzeste seit Jahren.

Jay Cintron, bekleidet in Shirt, Jeans und Flip-Flops, steht in seinem orangefarbenen Wagen, einem kleinen Truck, auf der Wall Street, unweit der New Yorker Börse. Seit einem Jahr verkauft er hier Kaffee und Cappuccino, doch meistens Espresso - je stärker, desto besser. Doch noch nie, sagt er, war der "Double Espresso" so hoch im Kurs wie jetzt. Zwei Dollar kostet der Doppelte. Meist gibt es noch einen Dollar Trinkgeld. Doch nicht heute. Den Börsianern war nicht nach Geldverschenken zumute. Den ganzen Montag lang hagelte es Schreckensmeldungen: Erst geht die Investmentbank Lehmann Brothers bankrott, dann muss Merrill Lynch übernommen werden, und der Versicherungsriese AIG braucht viel frisches Geld.

Ein solches Kursgewitter haben die Börsen lange nicht erlebt, doch schon kurz nach Feierabend ist es weitestgehend verhallt. In und um Manhattans Geldmaschinerie herum herrscht Ruhe, fast zuviel Ruhe. In den Pubs und Bars, wo sich junge Wall Street Broker treffen, redet kaum einer über all ihre Befürchtungen, die sich nun bestätigt haben. Auf den Flachbildschirmen hat jemand den Wirtschaftsender CNBC weggeschaltet, stattdessen läuft Football, das "Monday Night Game": Dallas Cowboys gegen Philadelphia Eagles. Es ist ein knappes Spiel - ein paar Gäste wetten darum, wer gewinnen wird. Ablenkung von der Aufregung, Abwechslung vom Abenteuer.

Seit fast einem Jahr, als die ersten Immobilienbanken ins Wanken gerieten, war in der ganzen Finanzwelt Unbehagen zu spüren. Und nun, wo die einen alles verloren haben, verdrängen diejenigen, die davon gekommen sind, ihren Unmut. Ein Banker, seit 20 Jahren im Geschäft, kommentiert den neuen schwarzen Montag nur mit einem Schulterzucken - eine Geste, die sagen soll: Es ist traurig, und es tut ihm leid für die Menschen, die jetzt ihren Schreibtisch räumen, die nach einem neuen Job suchen müssen. Und es tut ihm weh, auch wenn es ihn nicht selbst betrifft. Doch das Geschäft, sagt er, "ist, wie es ist".

Der Mann, der das Geschäft, in dem es keine Mittelmäßigkeit geben darf, erklären kann, sitzt in einem Pub in der Stone Street, einer der wenigen Kopfsteinplasterstraßen in der ganzen Stadt, nahe der Börse. Tisch an Tisch reiht sich hier aneinander, Kellnerinnen in kurzen schwarzen Röcken bringen Steaks zu den Tischen, Burger und Salate. Die Kunden tragen Designer, Prada, Gucci, dazwischen ein paar Touristen in Shorts. Am Rand sitzt Al Thompson, 40, Nadelstreifenanzug, rote Krawatte. Ein Ex-Broker, der sein Handwerk versteht. Thompson spricht eine blumige Sprache. Er reichert sie an mit großen Worten und großen Gesten.

Thompson ist Afro-Amerikaner. Als Schwarzer, sagt er, habe er es noch in den Neunzigern schwer gehabt. Mit einem wie ihm, hörte er immer wieder, könne ein Weißer keine Geschäfte machen - Thompson blieb daher von dem ausgeschlossen, was das Broker-Leben ausmacht: den großen Deals. Irgendwann verlor er deshalb seinen Job, aber nicht seinen Mut. Drei Tage, sagt er, habe er im Bett gelegen, 13 Stunden lang sei der Fernseher gelaufen. Dann ist er aufgestanden, hat weitergemacht, zunächst als Staubsaugervertreter, heute ist er Abteilungsleiter einer Consulting-Firma und hält Ausschau nach talentierten, jungen Brokern. "Schneebälle an Eskimos verkaufen", das sei das Mindeste was sie können müssten, sagt er. Begeistern sollen sie. Beklagen dürfen sie sich nicht, mag es ihnen auch noch so schlecht gehen. Mit Verlierern kann und will er nichts anfangen und damit geht es ihm wie so vielen Gästen in den Bankenviertel-Bars. So scheint der schwarze Montag, der 15. September 2008 schon vergessen zu sein, bevor er überhaupt vorbei, geschweige denn ein Ende der Krise abzusehen ist.

Am Dienstag geht es weiter. Wenn der Gang wieder schneller wird, sagt Jay Cintron, wird er wissen, dass es ein guter Tag ist - für die Broker und die Börsianer. Er selbst war auch mit dem schlechten, dem schwarzen Montag zufrieden. Trinkgeld hat es zwar nicht gegeben, dafür hat er mehr verkauft: vor allem Espresso. Den Doppelten. Hauptsache stark. Das haben sie gebraucht. Das hat er ihnen angesehen. Auch wenn man über so etwas an der Wall Street nicht redet.