Um 20,1 Prozent - auf 11,1 Milliarden Euro - stiegen die Kosten im ersten Halbjahr, doch die Ausgabenexplosion bei den Arzneimitteln in Deutschland kam nicht unerwartet. Vor Reformbeginn hatten sich noch Ende 2003 viele Patienten auf Vorrat mit Pillen versorgt, so dass der Bedarf 2004 erstmal weitgehend gedeckt war. Diese Vorratshaltung lief dann 2005 aus. Außerdem wurde der Rabatt, den Hersteller auf verschreibungspflichtige Arzneimittel geben müssen, 2005 wieder von 16 auf 6 Prozent gesenkt. Dafür gibt es zunehmend Festpreise für Pillen, Salben und Tropfen. Mit wieder steigendem Arzneibedarf und sinkendem Rabatt 2005 war dann auch der Kostenanstieg absehbar. Trotzdem zeigten sich Kassen und Kassenärzte, die in der Selbstverwaltung Regeln treffen sollen, kalt erwischt.
Kassen warnen vor Beitragssteigung
Nun warnen die gesetzlichen Krankenkassen vor einem Ausgabenplus auf rund 24 Milliarden am Jahresende - und steigenden Beiträgen. Schlecht wäre dies für die Versicherten, die Wirtschaft und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD). Im Jahr zwei der Gesundheitsreform sollten die Kassenbbeiträge nach dem Willen Schmidts eigentlich deutlich sinken. Doch trotz Einschnitten bei den Kassenleistungen, Praxisgebühr und Zuzahlungen sind sie bisher nur leicht auf durchschnittlich 14,2 Prozent gerutscht.
Die Spitzenverbände der Krankenkassen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) konnten sich bislang nicht auf ein System zur Kostendämpfung einigen. Dass Ärzte innerhalb einer Kassenärztlichen Vereinigung (KV) mit sparsamer Bilanz per Bonus belohnt werden sollen, war prinzipiell unstrittig. Die KBV lehnte aber die Kassenforderung ab, dass diejenigen mit überdurchschnittlichen Steigerungen mit Abzügen bestraft werden. "Die KBV verweigert sich vernünftigen Lösungen", sagt der Sprecher des Bundesverbands Betriebskrankenkassen, Florian Lanz.
"Die Uhr tickt für die Selbstverwaltung"
"Die Frage ist, ob die KBV handlungsfähig ist", heißt es im Gesundheitsministerium. Auf den hauptamtlichen Ärztefunktionären mit ihren Spitzengehältern lastet nun Druck. "Die Uhr tickt für die Selbstverwaltung", warnt Schmidt. SPD-Gesundheitsexperte Klaus Kirschner warnt, dass am Ende die Patienten die Gewinne der Pharmaindustrie und der Apotheken zahlen müssen. Notfalls müssen die Kassen aus Sicht des Ministeriums mit den KV in den Ländern Einzelverträge abschließen und die KBV umgehen. Ein Eingreifen des Gesetzgebers - wie von der Barmer gefordert - hält man in Berlin dagegen nicht für angebracht.
Was ist für die Kostensteigerung um 1,9 Milliarden Euro binnen sechs Monaten im Einzelnen verantwortlich? Nach Angaben des federführenden Apothekerverbands ABDA sind die größten Posten: die Verordnung teurerer Medikamente und Preiserhöhungen (630 Millionen), der abgesenkte Herstellerrabatt (460 Millionen) und der Verordnungszuwachs (351 Millionen).
Kaum unabhängige Medikamenten-Informationen
"Den einzelnen Arzt trifft keine Schuld", sagt Peter Sawicki, Leiter des Kölner Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Medizinern fehle unabhängige Information über Medikamente. So orientierten sie sich beim Verordnen an den Informationen der Pharmaindustrie. KBV-Vorstandsmitglied Ulrich Weigeldt will die Beratung der Praxisärzte weiter verbessern. Aber auch die Versicherten müssten besser aufgeklärt werden: In manchen Badezimmerschränken häuften sich Medikamente für tausende Euro.