Liebe stern-Leser!
Schon in den Tagen vor dem Geiseldrama in Moskau schien es, als sei die Welt endgültig verrückt geworden: Bomben auf Bali, Heckenschützen in Washington, Selbstmordanschläge in Israel. Überall Krieg und Krisen, Mord und Totschlag. Und dann das: Im Herzen der russischen Hauptstadt drangen mehr als 50 tschetschenische Terroristen in ein Musical-Theater ein und nahmen rund 900 Besucher als Geiseln. Die Botschaft der Attentäter ist in allen Fällen gleich: Es gibt keine Sicherheit mehr, für niemanden und nirgendwo. Die Moskauer stern-Korrespondentin Bettina Sengling freute sich gerade auf ihren Urlaub, als am Mittwoch der vergangenen Woche das Drama begann. Sie fuhr rasch zum Tatort, wo sich in strömendem Regen bereits verzweifelte Angehörige versammelt hatten. Ihre Kollegin Katja Gloger, von 1991 bis 1994 stern-Korrespondentin in Moskau, war gerade auf Recherche in Berlin, als sie von dem Überfall erfuhr. Weil sie immer noch ein Dauervisum für Russland hat, konnte sie sofort in die russische Hauptstadt fliegen. Während des dreitägigen Dramas in Moskau sprachen die beiden Reporterinnen mit befreiten Geiseln, suchenden Angehörigen und fassungslosen Ärzten, mit Diplomaten, Offiziellen des Krisenstabes und Scharfschützen der Sondereinheiten. Sie lernten Menschen kennen wie die 18-jährige Geisel Natascha, die sich trotz des Horrors bemühten, nicht zu hassen. Ihr Protokoll der 58 Stunden enthält viele bisher unbekannte Details der Tragödie. Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin war die Geiselnahme die bislang größte Herausforderung. Er setzte von Anfang an auf eine gewalsame Lösung. Die vielen unschuldigen Opfer schaden seiner Popularität kaum. „Wir konnten nicht alle retten“, sagte er hinterher. „Verzeihen Sie uns.“ In der Politik der harten Hand weiß er sich einig mit seinem Volk. „Wir haben sie ordentlich nass gemacht“, titelte Russlands größte Tageszeitung am Tag nach dem Sturm auf das besetzte Theater. Einzelne Menschenleben zählen da wenig. Erst recht nicht in Tschetschenien: stern-Reporter Mario R. Dederichs beschreibt den schmutzigen Krieg der Russen im Kaukasus. Er war von 1985 bis 1988 unser Korrespondent in Moskau. Schon damals beschäftigte er sich mit den Tschetschenen. Bei den Sowjets lief das unter „Nationalitätenfrage“ – und die galt als gelöst. Einzelne Mahner finden in Moskau derzeit wenig Gehör. „Russland ist am Scheideweg“, sagte der bekannte Soziologe Boris Kargalizkij. „Wir müssen uns entscheiden, ob wir den Weg von Verhandlungen gehen oder unsere Probleme weiter mit Gewalt lösen wollen. Es geht weniger um Tschetschenien als um unser eigenes Land.“
Herzlichst Ihr
Thomas Osterkorn