Editorial Der "lupenreine Demokrat" und seine russische Zuchtanstalt

Liebe stern-Leser!

Führerkult, subtile Jagd auf Andersdenkende, drangsalierte Oppositionspolitiker, Macht und Milliarden in wenigen Händen: Hier geht es nicht um einen despotischen Kleinstaat in Afrika, sondern um das größte Land der Erde, um Russland. Wladimir Putin verwandelt seinen Staat nach und nach in eine Zuchtanstalt, über deren Eingang zwar das Schild "Demokratie" hängt, deren Innenleben mittels Repressalien aber willkürlich geregelt ist. Stets zugunsten des Mannes, dessen Partei "Einiges Russland" kommenden Sonntag mit vermutlich großer Mehrheit die Parlamentswahl gewinnen wird. Es gibt offiziell natürlich keine Zensur, aber es gibt die Selbstzensur aus nackter Angst. Denn wer es wagt, Kritik an den Mächtigen zu veröffentlichen, dem droht die Höchststrafe, die in keinem Gesetzbuch steht: Vernichtung der Existenz. Dafür ist den Behörden jede fadenscheinige, abwegige Begründung willkommen. Auf dem Weg zu dem Ziel, Widersacher mundtot zu machen, sind Putins Häscher weit gekommen. "Es gibt in der Provinz kaum noch Fälle von polizeilicher Verfolgung", sagte ein russischer Medienexperte stern-Reporterin Bettina Sengling, "weil es kaum noch jemanden gibt, den die Polizei verfolgen muss." Selbst ein Werbemanager, der einer Oppositionspartei Plakatwände vermietet hatte, verlor seinen Job. Senglings Reportage beginnt auf Seite 26.

Es gibt zu viele Beispiele, wie der russische Staatsapparat Missliebige gängelt. Nötig wäre all dies nicht, denn Putin ist dank seiner PR-Maschinerie tatsächlich sehr populär. Aber er weiß sich eben einig mit vielen Russen, die meinen, das Land brauche eine starke Hand, der Liberalismus dagegen führe in den Untergang.

Treu an Putins Seite steht nach wie vor Gerhard Schröder, Aufsichtsrat einer Gazprom-Tochter. Er hält den russischen Präsidenten immer noch für einen "lupenreinen Demokraten" - Gerhard Schröder, immerhin Ex-Kanzler einer westlichen Vorzeige-Demokratie, Jurist und Sozialdemokrat! Selbstzensur funktioniert eben auch, wenn man für den Aufwand entschädigt wird. Schröder tut so, als sei er Putins persönlicher Abgesandter. So gab er sich überzeugt, dass Präsident Wladimir Putin sein Land zu einer "pluralistischen Demokratie nach westlichem Muster mit freien Medien und einer Marktwirtschaft" entwickeln wolle. Man dürfe nicht "auf diejenigen hören, die wieder Mauern, diesmal rhetorische und ideologische, aufbauen" wollten, formulierte Schröder noch vor Kurzem in Berlin mit Blick auf die Kanzlerin. "Manche tun dies mit dem Verweis auf ihre Biografie, die Erfahrungen mit Systemen wie der DDR." Er habe Verständnis für solche "Emotionalität", aber man dürfe sich in der internationalen Politik davon nicht leiten lassen. Es klang ein bisschen so, als würde die erfahrene Eminenz über einen ungestümen Emporkömmling urteilen, der zudem noch eine Frau ist. Im stern-Interview in dieser Ausgabe kontert Angela Merkel die Sticheleien ihres Vorgängers gelassen: "Ich schöpfe aus meiner Biografie Kraft, und ich denke, dass das bei jedem meiner Vorgänger so war. Ich habe in meinem Leben außerdem erlebt, dass Veränderungen etwas Gutes bedeuten können. So leiste ich mit meiner Biografie, den ersten 35 Jahren Leben in der DDR und den 17 Jahren seit der deutschen Einheit, meinen Beitrag für das Land." Das Interview beginnt auf Seite 40.

Herzlichst Ihr

Andreas Petzold

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