Editorial Endlich entscheiden!

Die Lage der Nation ist nicht hoffnungslos! Erstmals haben sich die beiden dominierenden Volksparteien SPD und CDU dazu durchgerungen, den betagten Wohlfahrtsdampfer "Deutschland" endlich zur Generalüberholung ins Trockendock zu legen. Lange hat`s gedauert

Liebe Stern-Leser!
Die Lage der Nation ist nicht hoffnungslos! Erstmals haben sich die beiden dominierenden Volksparteien SPD und CDU dazu durchgerungen, den betagten Wohlfahrtsdampfer "Deutschland" endlich zur Generalüberholung ins Trockendock zu legen. Lange hat`s gedauert. Bei der SPD bedurfte es erst der "Hallo-Wach-Wahlen" in Hessen und Niedersachsen, und die CDU wollte erst mal gucken, welche brutalen Reparaturvorschläge der Kanzler macht, bevor Angela Merkel selbst Position bezog. Immerhin, in der Schadensanalyse sind sich alle einig, sogar die Ziele decken sich weitestgehend: zukunftssichere Sozialsysteme, flexiblerer Arbeitsmarkt, Bildungsoffensive. Die Wege dorthin sind verschieden, mal über die Rürup-Allee, mal über die Herzog-Straße oder den Kirchhof-Platz. Dahinter verbergen sich langfristige Reformvorhaben, die ganz dicken Brocken (Seite 32), Kopfpauschale oder Bürgerversicherung, Tarifautonomie oder betriebliche Bündnisse, Subventionsabbau, drastische Steuerreform und dergleichen mehr. Themen, die bis zur Bundestagswahl 2006 tragen, sollte Rot-Grün bis dahin überleben.
Aber was jetzt auf der Herbst-Agenda der Regierung steht, muss zügig mit der Union verhandelt und entschieden werden. Denn überall herrschen Ungewissheit und Orientierungslosigkeit über das, was kommen wird. Die politischen Vorarbeiter in Berlin müssen dafür sorgen, dass der Dampfer spätestens am 19. Dezember, der letzten Bundesratsitzung in diesem Jahr, wieder zu Wasser gelassen werden kann. Wenn auch nur notdürftig abgedichtet mit Hartz-Komponenten und der vorgezogenen Steuerreform.
Veränderung schafft Verunsicherung, und die sitzt tief in der neuen deutschen. Wer arbeitslos ist, hat längst keinen Aussätzigenstatus mehr - es kann jeden jederzeit treffen. Die Angst vor dem sozialen Abstieg wird offen diskutiert, die gefühlte Rezession gerät zu einem beklemmenden Kollektiverlebnis. Schnell noch die Zähne richten lassen, die neue Brille bei der Kasse einreichen, bevor alles aus eigener Tasche gezahlt werden muss. Keine neuen Möbel, und immer ein paar Euro beiseite legen, wer weiß, was die Politiker an neuen Grausamkeiten ausbrüten. Ungewissheit und Zweifel sind breit gesät: Werden die Reformen greifen? Es ist ja richtig, die Arbeitskosten zu senken, um Unternehmen das Investieren zu erleichtern. Aber was, wenn die Wirtschaft wieder ordentlich wächst und dennoch keine neuen Arbeitsplätze entstehen? Weil immer mehr Arbeit von immer weniger Menschen erledigt werden kann. Wie derzeit in den USA zu besichtigen!
Gewöhnen wir uns also ruhig an die Krise und die Gewissheit, dass das persönliche Risiko in dem Maße wächst, wie die staatlichen Bestandsgarantien herunter- gefahren werden. Es wird nicht anders gehen. Allerdings: Wenn es endlich irgendwann zu der jetzt diskutierten kopernikanischen Wende in der Sozialpolitik kommt, dürfen die Politiker eine rote Linie nicht überschreiten: Sie dürfen die sozial Schwachen nicht übermäßig belasten. Das würde - an dieser Stelle ist ein wenig Pathos erlaubt - das Vertrauen in die Demokratie zerstören. Und radikalen Politikern ungeahnte Chancen eröffnen. Das Land wartet also auf eine neue Sicherheit, um sich auf die Zukunft einstellen zu können. Nur dann werden die Menschen neue Initiativen entwickeln. Tempo, bitte! Es ist alles gesagt. Jetzt muss entschieden werden!

Herzlichst Ihr
Andreas Petzold

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