Liebe stern-Leser!
Es wird nicht viel nützen, George W. Bush auf das Kapitel VII der UN-Charta hinzuweisen, aber es macht die ganze Sache für ihn ein bisschen unangenehmer: Dort ist nämlich zu lesen, dass die Vereinten Nationen das weltweite Gewaltmonopol besitzen.
1945 hatten die USA eifrig an dieser Weltordnung mitgeschrieben. Die Trümmer des Zweiten Weltkriegs rauchten noch, und nie wieder sollten Angriffskriege unter dem Bruch des Völkerrechts geführt werden. Amerika wollte die Autorität sein, die das Völkerrecht bewacht. Nun blieb die Welt seitdem alles andere als friedlich, und die Vereinten Nationen waren zu oft ein kraftloser Club.
Wenn aber das mächtigste Land der Welt jetzt dieses Völkerrecht ignoriert und einen "Präventivkrieg" anzettelt, dann ist dies ein Präzedenzfall, auf den sich zu späteren Zeiten auch andere Länder berufen könnten. Deshalb geht es im UN-Sicherheitsrat nicht nur um Krieg und Frieden im Irak, sondern darum, ob dieses Mindestmaß an Weltordnung, das Völkerrecht also, auch in Zukunft gilt oder ob ab sofort nur noch das Recht des Stärkeren zählt. Steinzeit im dritten Jahrtausend, die Welt als rechtsfreier Raum?
Wie wollen die USA sich jemals wieder auf das Völkerrecht und die Menschenrechte berufen, wenn sie ohne ausdrückliches UN-Mandat Krieg führen und zivile Opfer in Kauf nehmen?
Es gibt noch eine andere Frage, mit der die Bush-Berater ihren Präsidenten ins Grübeln bringen könnten: Mr. President, merken Sie nicht, wie Sie in die Falle von Osama bin Laden tappen? Denn es ist doch genau das Kalkül dieses Terroristen, einen gigantischen Gegenschlag der USA in der muslimisch-arabischen Welt zu provozieren und damit den ewigen Aufstand der Islamisten gegen den Westen zu zünden.
Doch Bush scheint beseelt zu sein von dem religiösen Eifer, mit Hilfe eines modernen Kreuzzugs "Demokratie und Freiheit" in der Golfregion zu verbreiten. Schon während seines Wahlkampfs umriss er seine Vision: "Amerika darf sich nicht in seine Grenzen zurückziehen. Unser großartigster Exportartikel ist die Freiheit, und wir haben eine moralische Verpflichtung, sie auf der ganzen Welt zu verteidigen." Ist ausgerechnet Demokratie neuerdings die Höchststrafe für widerspenstige Diktatoren? Natürlich nur für solche, die nicht treu im Kielwasser der USA segeln?
Es wird dem Präsidenten also herzlich egal sein, wie die Vereinten Nationen abstimmen. In seinem Sandkasten im Weißen Haus haben die Strategen den Nahen Osten schon neu geordnet. stern-Reporter Mario R. Dederichs beschreibt die Pläne des US-Präsidenten. Sein Kollege Christoph Reuter und Fotograf Thomas Hegenbart berichten aus dem Nordirak. Ihre Reportage verdeutlicht, dass der Streit um die Ölfelder des Nordens schnell in einen offenen Konflikt zwischen Kurden und Türken ausbrechen kann. Es geht vielleicht nur noch um wenige Tage, aber noch hat Bush die Wahl zwischen Friedensbringer oder Brandstifter.
Herzlichst Ihr Andreas Petzold