Editorial Warum das Wohl der Kinder oft auf der Strecke bleibt

Liebe stern-Leser!

Vergangene Woche befreite die Polizei in Meinersen bei Gifhorn fünf verwahrloste Kinder aus einer verdreckten Wohnung. Alle paar Tage schockieren uns solche Meldungen über misshandelte, vernachlässigte und manchmal sogar getötete Kinder. Meistens - so auch in Meinersen - waren die familiären Zustände den Behörden bereits bekannt. Und jedes Mal fragen wir uns: Was macht eigentlich das Jugendamt? stern-Autor Walter Wüllenweber ist dieser Frage nachgegangen. Er fand chaotische Organisationsstrukturen und Mitarbeiter, die total überlastet sind, verunsichert und in ständiger Angst, dass ihnen ein Kind stirbt, weil sie nicht rechtzeitig dazu kamen, den Fall zu bearbeiten. Wüllenweber sprach mit Wissenschaftlern, Richtern, Kinderschützern und unzähligen Praktikern vor Ort. Durchweg alle sind in großer Sorge und fordern eine rasche und grundlegende Reform des Kinder- und Jugendschutzes. Gerade hat der Bundestag ein Gesetz verabschiedet, das den Schutz der Kinder verbessern soll. Doch es wird an dem Wahnwitz Kinderschutz, wie ihn Wüllenweber ab Seite 52 beschreibt, leider nichts ändern.

Sechseinhalb Jahre lang berichtete Michael Streck als Korrespondent für den stern aus USA. Mitte Januar kehrte er schweren Herzens mit seiner Familie nach Hamburg zurück und fühlt sich in Deutschland immer noch seltsam fremd. "Die Seele ist noch drüben", sagt er. "Der amerikanische Optimismus, die Offenheit und Flexibilität der Menschen stecken an." An seiner alten und neuen Heimat Deutschland imponiert ihm vor allem "das Klischee" - Funktionalität und intakte Infrastruktur. "Die USA sind im Vergleich dazu wie ein Entwicklungsland", sagt Streck, der zum Abschluss seiner Zeit in den Staaten andere Landsleute dort besuchte: Kreative, Anwälte, Geschäftsleute und Lebenskünstler, die der Fotograf Gunter Klötzer für ein Projekt über Deutsche in Amerika in Szene gesetzt hatte (Seite 62). Die meisten von ihnen teilten Strecks Erfahrungen: Sie loben den entspannten Umgang miteinander. Sie schimpfen auf Bush. Sie vermissen deutsches Brot und vernünftige Fernsehnachrichten. Aber Heimweh nach Deutschland hat niemand.

Charlotte Roches Roman "Feuchtgebiete" ist ein Phänomen: Das pinkfarbene Buch über ein 18-jähriges Mädchen, das seinen Körper erforscht und hemmungslos über Analverkehr und Körpersäfte spricht, belegt seit Wochen Platz eins der Bestsellerlisten und ist Thema vieler Talkshows und Feuilletons. Steckt hinter diesem Erfolg mehr als nur Provokation (der Autorin) und Voyeurismus (des Publikums)? stern-Redakteurin Andrea Ritter besuchte Charlotte Roche auf ihrer Lesereise, nachdem sie die Autorin unlängst schon zum Interview getroffen hatte, und schaute sich in der Kulturszene um. Ihr Eindruck: Der Feminismus - ein Thema, von dem sich Frauen um die 30 mehr oder weniger verabschiedet hatten - ist zurück. Ganz neu, ganz unverblümt.

Herzlichst Ihr
Thomas Osterkorn

print