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M. Streck: Frischluft Heimweh nach London und Skandalen mit Wumms

Gedränge vor den Pubs in London
Gedränge vor den Pubs in London – nicht der einzige Grund, neidisch auf die Briten zu sein, meint Michael Streck
© Niklas Halle'n / AFP
Unser Autor Michael Streck sehnt sich gerade zurück auf die Insel. Nicht nur, weil dort die Biergärten wieder offen sind. Auch das natürlich. Aber das Chaos um Laschet und Söder bestätigt wieder mal, dass die Briten das ganze große Theater besser können.

Jedes Mal, wenn wir mit unserer Tochter in London telefonieren, wird mir warm ums Herz. Das liegt vermutlich in der Natur der Sache. Neuerdings wird mir noch wärmer ums Herz. Vor ein paar Tagen schickte sie ein Foto aus einem Biergarten. Sie saß da mit Freunden, unterhielt sich seit Monaten erstmals mit fremden Menschen an anderen Tischen und sagte, sie hätte vor Freude weinen können.

Neid können Deutsche besser

In diesem Moment, und nicht nur in diesem, bekamen wir Heimweh nach London. Nicht mal wegen der Pubs, auch nicht, weil ungefähr alle Briten geimpft sind. Es sei jedem nach diesem verheerenden Jahr mit annähernd 130.000 Toten mehr als gegönnt. Im Übrigen gibt es in Großbritannien auch keinen Impfneid, von dem es heißt, der grassiere hierzulande mindestens so wie das Virus und sei auch mindestens so ansteckend. Es gibt im Englischen nicht mal ein Wort für Impfneid. Für Sozialneid auch nicht. Neid können Deutsche besser. 

Michael Streck: Frischluft

Michael Streck, Jahrgang 1964, wurde in Lüdenscheid, am Rande des Ruhrgebiets entbunden und muss sich Zeit seines Lebens Witzchen über Loriots Herrn Müller-Lüdenscheidt anhören.

Er begann als Sportjournalist, wechselte als Reporter ins Deutschland-Ressort des stern und war von von 2001 bis 2008 US-Korrespondent in New York. Von 2014 bis zum Sommer 2019 war Streck Korrespondent in London und schrieb über Brexit, Gesellschaft, Kultur und Exzentrisches fürs Magazin, aber auch an dieser Stelle seine Online-Kolumne “Last Call“. Nun geht es hier weiter mit "Frischluft": Beobachtungen aus dem Alltag in Zeiten der Corona-Pandemie

Vielleicht ist es auch gerade nur ein déjà-vu. Deutschland im Frühjahr 2021 erinnert mich ein bisschen an Großbritannien im Sommer 2016. Damals, kurz nach dem dämlichen Referendum, bekriegten sich Boris Johnson und sein Kontrahent Michael Gove so lange und inbrünstig um die Nachfolge des zurückgetretenen Premiers David Cameron, bis am Ende Theresa May als Siegerin aus dem Ringstaub stieg. Das war alles zutiefst unappetitlich, ruch- und rücksichtslos und irre. Es war in einem Wort: herrlich.

Etwa zu dieser Zeit waren zwei SPD-Außenpolitiker zu Gast in London zu einer Konferenz. In einer Mittagspause trafen wir uns, es war Juli, es war heiß, beide schwitzten, aber beide nicht wegen der Juli-Sonne. Sie sehnten sich nach drei Tagen des Tumults und der Scharmützel ins langweilige Berlin zu Mutti zurück. Das Tempo der Intrigen und Meucheleien war ihnen entschieden zu hoch. Ich konnte sie damals irgendwie verstehen und irgendwie auch nicht. 

In Deutschland führten die Herren Söder und Laschet ein ähnliches Schauspiel auf, nur nicht annähernd so gekonnt und leider auch nicht annähernd so unterhaltsam wie seinerzeit Johnson und Gove von der konservativen Schwesterpartei. Im Vergleich zum britischen Original-Dramolett wirkten ihre Darbietungen erschütternd provinziell und wie Bauerntheater gegen Shakespeare. Mehr muss man über die beiden nicht sagen. Nicht mal Skandale haben in Deutschland richtig Wumms. Wirecard, okay, aber die Hauptbeteiligten sind Österreicher, das gibt mindestens Punktabzüge. Skandale können Briten besser. 

Schnappatmung vor laufender Kamera

Wie man einen richtigen Skandal zur Aufführung bringt, haben soeben erst sechs führende englische Fußballvereine vorgemacht. Ihr Vorstoß, gemeinsam mit einigen Pleite-Klubs aus Spanien und Italien eine Superliga zu gründen, hatte aber mal so richtig Wumms. Es verdrängte sogar die Politik aus den Schlagzeilen und die Impferfolge und die wunderbaren Bilder aus den vollen Biergärten. Aufregung, Geschrei, Trikotverbrennung. Der frühere Profi Gary Neville kriegte vor laufender Kamera Schnappatmung, hielt eine dreiminütige Tirade und dampfte und kochte noch tags drauf. Als der Unfug von der Fußball-Revolution schließlich in sich zusammenfiel wie ein verunglücktes Soufflé, schüttete sich Neville erst mal einen ordentlichen Kelch Rotwein in den Kopf und prostete via Twtitter auf den raschen Kollaps der Schnapsidee. Es war in einem Wort: herrlich. Hierzulande muss man schon Jahrzehnte zurückblicken auf vergleichbare Verwünschungen aus dem Bereich der Leibesübungen. Man ist dann schnell bei Giovanni Trapattoni oder Rudi Völlers Einlassungen über den Alkoholverzehr des ARD-Sportkameraden Waldemar Hartmann.

Nun haben es die Briten nicht grundsätzlich besser, nur zur Klarstellung. Sie haben Boris, das ist auch nicht schön. Und vermutlich fliegt ihnen nach Corona auch das Königreich um die Ohren. Geschenkt. Vorerst aber sitzen sie geimpft im Biergarten, die Inzidenzen sinken, die Tochter zum Weinen glücklich. So ändern sich die Zeiten. 

Cheers aus dem Lockdown. Auf Gary Neville. Und überhaupt.

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